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: HELMUT HÖGE über „kalte Wut“

Von Jugend forscht zur Jugendforschung

Die Nachkriegsjugend hatte spätestens in den Sechzigern noch die Chance, zu forschen: Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll. Danach öffneten sich ihr mit der Bildungsreform sogar die Universitäten. Die meisten drängten in Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Soziologie.

Heute ist es umgekehrt: Die Studenten wollen Jura oder Wirtschaft studieren, und die Jugend ist zum Forschungsgegenstand geworden.

In Berlin lernen die Lehrer in Sonderkursen Konfliktmanagement im Umgang mit schwierigen beziehungsweise rechtsradikalen Schülern. Die Polizisten üben sich in sozialarbeiterischer Gewaltprävention. Es gibt Hooligan-Betreuungsgruppen, und in Problemquartieren organisiert man ein „Anger-Management“.

Während die Nachkriegsjugend über „Gewalt gegen Sachen“ diskutierte, ist jetzt das Thema „Jugendgewalt“ dran.

Das eine wie das andere kommt aus den USA, wo man jetzt sogar an Zensur denkt – zum Beispiel bei den Texten des weißen Rappers Eminem: ein Anti-Ödipus, der statt seines Vaters seine allein erziehende Mutter (und dazu alle Schwulen) umbringen will. Auch Madonnas neuester Videoclip flog gerade aus MTV, wie die Netzeitung berichtet. Die Sängerin spielt darin ein „nihilistic pissed-off chick“, das Amok läuft.

Zur gleichen Zeit kam es gerade an zwei Highschools zu Schießereien, woraufhin die Schulen unter ständigen Polizeischutz gestellt wurden und man daran denkt, ein „Netzwerk von Teenspitzeln“ aufzubauen. Daneben wurde ein hartes „Durchgreifen“ gegenüber „Gothics“ erwogen.

Hierzulande spricht man von den „Grufties“ – und in Sachsen-Anhalt, aber auch in der Mongolei, wo man natürlich auch MTV sieht, gibt es ebenfalls schon Bestrebungen, diese zum Masosatanismus neigende Scene zu bekämpfen, in der man jedoch statt Morden eher Selbstmord begeht. In Sachsen-Anhalt bereits mit bedenklicher Häufigkeit. Mit der Abwicklung der Arbeiterklasse verschwand dort wie überall der Adressat von Gesellschaftskritik. Dennoch oder gerade deswegen stellt sich – besonders in Sachsen-Anhalt – heute die Frage: Wie kann man dort nicht Selbstmord begehen?

Der Jugendforschung ist jedoch eher am Überleben ihrer Objekte gelegen, und dazu sollen diese noch glücklich sein beziehungsweisewerden. Die Ausgabe 102/103 der Zeitschrift der Ostberliner Umweltbibliothek, telegraph, ist fast zur Gänze diesem Problem gewidmet.

Im Beitrag von Fritz Vilmar (FU) werden die „Resignation und Verbitterung, aber auch große, kalte Wut“ auf die „strukturelle Kolonialisierung“ durch die Westdeutschen zurückgeführt: „Bei jungen Leuten ohne jede geistige Orientierung kann dieser ‚totale Frust‘ sehr gewalttätig und sadistisch zum Ausbruch kommen.“ Wobei angemerkt wird, dass es leichter ist, „einen sozial schwächeren Ausländer anzugreifen, als den sozial anerkannten Wessi“.

Auch Erhard Crome thematisiert in seinem Beitrag die „kalte Wut“ im Osten – weil es dort nicht zu einer „politischen Reflexion der eigenen Lage, der eigenen Interessen und möglicher Gestaltungsoptionen“ infolge des Treuhand-Blitzfriedens kommen konnte. Der telegraph-Mitarbeiter Andrej Holm wertet eine Jugenduntersuchung aus, nach der „nur 20 Prozent aller Befragten eine optimistische Prognose“ für ihre Zukunft in Ostdeutschland haben: „Das ist absoluter Tiefstand der Zuversicht.“

Gabi Jaschke hat sich im Rahmen eines EU-Jugendforschungsprojekts der „kalten Wut“ in Guben gewidmet, ihr Beitrag ist der umfangreichste. Er enthält mehr Jugendgedanken, als es überhaupt Jugendliche in Guben gibt.

Ähnliches gilt inzwischen auch für die Situation der Jugendarbeit dort selbst: Den Linken stehen drei Jugendzentren zur Verfügung, für die Rechten gibt es eins. Summa summarum: Nicht alle Jugendlichen können Manager werden, schon gar keine ostdeutschen, deswegen muss man ihren „totalen Frust“ managen.

„Der dritte Weg“ wäre ein Aufstands-Automanagement. Immer mehr Neonazis arbeiten daran – indem sie Kapital-Schulungskreise besuchen.