„Keine hat so viele Omas wie ich“

Marina Schubarth hilft ehemaligen Zwangsarbeitern in der Ukraine, die an den bürokratischen Hürden der Stiftung zu scheitern drohen. Zugleich versteht sich die junge Frau als Botschafterin der Versöhnung zwischen den beiden Ländern und Völkern

von NICOLE MASCHLER

Von Beruf ist Marina Schubarth Tänzerin. Und irgendwie auch Detektivin, Psychologin und Krankenschwester. Die 35-jährige Ukrainerin hilft früheren NS-Zwangsarbeitern. Sie sucht Nachweise, telefoniert mit Behörden, schreibt Briefe an Archive und Firmen oder leiht den Betroffenen manchmal auch nur ihr Ohr. Denn für viele der ehemaligen Zwangsarbeiter sind die Anträge ein unüberwindliches Hindernis. Doch ohne Nachweis keine Entschädigung, so will es das Stiftungsgesetz.

Seit gestern ist Marina Schubarth wieder in der Ukraine unterwegs, zum vierten Mal in zwölf Monaten. Sie informiert ehemalige Zwangsarbeiter – die noch immer auf die Entschädigung aus Deutschland warten – über den Stand ihrer Recherchen, nimmt sich neuer Fälle an, verteilt Spenden, die der Berliner Osteuropa-Verein „Kontakte“ gesammelt hat. 10.000 Dollar darf sie mitnehmen. Immerhin. Das Geld gibt sie den Alten, den Kranken, den Bedürftigen.

Fast zufällig kam Schubarth zu dieser Rolle. Als die junge Ukrainerin vor drei Jahren zu Besuch auf der Krim war, sprach sie eine ehemalige Zwangsarbeiterin aus dem KZ Ravensbrück an. Vor Monaten hatte die alte Frau nach Deutschland geschrieben, um einen Nachweis für die Stiftung zu erhalten. Doch auf Antwort wartete sie vergeblich. Schubarth versprach, sich darum zu kümmern. Am Ende hatte sie das Papier – und eine neue Aufgabe. Ihr Engagement hatte sich herumgesprochen. Immer wieder erreichten sie Schreiben aus der Ukraine. Briefe von Menschen, die nichts in der Hand hatten – nur ihre Geschichte im Kopf.

Auf die „Versöhnungsstiftung“ ist Schubarth nicht gut zu sprechen. Was sei schon anderes von dieser zu erwarten, die auf Briefe nicht antworte oder in einem Schreiben die Stadt Hameln mit „G“ schreibt, sagt Marina Schubarth bitter. Die ukrainische Organisation, die für die Verteilung der 1,72 Milliarden Mark vor Ort verantwortlich ist, genießt einen zweifelhaften Ruf. Die Stiftung verlor 86 Millionen Mark durch den Konkurs einer Bank. Einer der Verantwortlichen wurde verhaftet, als er von einem seiner deutschen Konten 50.000 Mark in bar abheben wollte.

„Die Stiftung hält die Menschen in dem Glauben, dass sie jetzt ihr Geld kriegen. Dafür geben sie ihre letzten Originaldokumente weg“, erzählt Marina Schubarth. Andere wie Iwan Babka haben nach ihrer Rückkehr aus Deutschland alle Dokumente vernichtet, die ihren Status als Zwangsarbeiter beweisen konnten. Denn für die sowjetische Regierung waren sie schlicht Kollaborateure, ihnen drohte eine Verurteilung zu sibirischer Lagerhaft.

Als Botschafterin versteht sich Marina Schubarth, als Vermittlerin zwischen beiden Ländern. Nach Berlin kam sie vor zwölf Jahren aus Kiew. Es zieht sie immer wieder in die alte Heimat. Zur Tante und zum Onkel und zu „ihren“ Zwangsarbeitern, die längst zur Familie gehören. „Niemand“, sagt sie und lächelt, „hat so viele Omas und Opas wie ich.“ Stunden hat sie bei den alten Menschen verbracht, die sich oft an nicht viel mehr erinnern als den Namen der Stadt, in der sie einst schufteten. Sie hat mühsam ein Puzzleteil an das andere gefügt und mit ihnen gewartet, ob die Papiere ausreichen. Erfahrungen, die verbinden.

Ihre Arbeit macht Schubarth ehrenamtlich. Geld bekommt sie keines, obwohl sie es gut gebrauchen könnte. Denn seit einem Unfall vor ein paar Jahren ist sie arbeitslos. „Mir geht es darum“, sagt sie, „Zeichen zu setzen.“

Die Zwangsarbeiter hätten die Deutschen nur als brutale „Herrenmenschen“ erlebt, von denen sie mit Waffengewalt aus Häusern und Dörfern getrieben wurden. Sie will zeigen, dass die junge Generation anders ist. Deshalb hält sie auch dann noch Kontakt zu den alten Menschen, wenn sie längst nach Berlin zurückgekehrt ist.

In dem endlosen Streit um Rechtssicherheit sei beinahe aus dem Blick geraten, worum es bei der Entschädigung eigentlich geht. „Die Gesichter fehlen.“ Deshalb, glaubt die junge Ukrainerin, zeitige auch die Sammelaktion von Kontakte e. V. Erfolg. Weil es hier um die Menschen gehe – und nicht um Fachausdrücke.

Vor einigen Wochen hat sie bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ angefragt, ob diese ihre Unkosten für Porto und Telefongespräche übernehmen könne. Die Antwort: negativ. Das war nicht anders zu erwarten. Doch Marina Schubarth will nichts wissen von Rechtsaufsicht und Personenschäden, Versicherungspolicen und Listenanträgen. Die Details der Entschädigungsverhandlungen interessieren sie nicht. Sie will nur eines: den alten Menschen so schnell wie möglich helfen.

So ergriff sie denn auch vor zwei Wochen das Wort, als sie mit früheren Zwangsarbeitern, Opferverbänden und Schülern vor dem Sitz der Stiftungsinitiative der Wirtschaft in der Breiten Straße demonstrierte. Nur ungern trat sie vor die Gruppe und erzählte von Mario Bertorelli: Der alte Mann, den die Nazis aus Italien verschleppten und der heute in London lebt, habe ihr 100 Pfund in die Hand gedrückt – für ihre Arbeit. Skandalös sei das, findet Marina Schubarth. „Ich hoffe, es ist das letzte Mal, dass ich das Geld annehmen muss.“

Spendenkonto: Berliner Volksbank, Kontonummer 3065 599 006, BLZ 100 900 00, Kennwort: Zwangsarbeit