: Mutmaßlicher SS-Mann aufgespürt
Mit falschem Pass lebte ein holländischer Kriegsverbrecher offenbar seit Jahren in Hessen. In Holland, wo ihn Richter 1950 in Abwesenheit zum Tode verurteilten, ist eine Anklage nicht mehr möglich. Deutschland prüft Übernahme der Strafverfolgung
von KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT
Sie nannten ihn den „Boxer“. In der Region Hoogeveen war er der brutalste SS-Scherge von allen. Und wenn die alten Leute dort seinen Namen hören, bekämen sie noch immer eine Gänsehaut, berichtete gestern die Zeitung De Telegraaf unter Berufung auf den holländischen Historiker Albert Metselaar.
Der heute 78-jährige Holländer Dirk H., der „Boxer“, soll bis zur Befreiung des Landes durch die Alliierten systematisch Jagd auf Juden gemacht, sie gefoltert und anschließend für ihre Deportation gesorgt haben. Nach seiner Festnahme 1945 gelang ihm die Flucht – offenbar nach Deutschland. Dort soll er als Dieter H. untergetaucht sein.
In Holland wurde er 1950 in Abwesenheit zum Tode verurteilt: wegen Landesverrats aufgrund seiner SS-Mitgliedschaft. Jetzt ist der „Boxer“ vielleicht aufgespürt worden. Dieter H. alias Dirk „Boxer“ H. soll seit 50 Jahren unbehelligt in Ringgau leben, einem kleinen Ort im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis. Er sei Gemüsegroßhändler und – wie die Nachbarn sagen – ein „geachteter Mann“. Dass Dieter H. der gefürchtete „Boxer“ sein soll, will dort keiner glauben. „Immer anständig und politisch nie auffällig“, sei Dieter H. gewesen, sagte seine Nachbarin am Sonntag einem Radioteam.
Und wenn Dieter H. tatsächlich der Judenjäger von Hoogeveen war? Das sei schon so lange her, meinte die Nachbarin. Und dass man den alten Mann doch in Ruhe lassen sollte. Das Radioteam sprach von einer „feindseligen Stimmung“ im Ort: gegen Journalisten, nicht gegen den – mutmaßlichen – Kriegsverbrecher. Vor einem Journalisten, der vor dem Haus auf ihn gewartet hatte, flüchtete Dieter H. im Auto und ließ seine Frau einfach vor dem Garagentor stehen.
Die Niederlande wollen jetzt die Auslieferung beantragen. Deutschland aber liefert seine Staatsbürger generell nicht aus. Doch weil sich der „Boxer“ die deutsche Staatsbürgerschaft wohl unter falschem Namen erschlichen hat, sieht man bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Arnheim Chancen, den mutmaßlichen Kriegsverbrecher doch noch in Holland für seine Untaten bestrafen zu können.
Staatsrechtlich ist das ein schwieriges Terrain. Schließlich wurde der „Boxer“ in Holland bereits verurteilt: zum Tode. Abgesehen davon, dass ein Todesurteil in einem EU-Land ganz sicher nicht vollstreckt wird, darf ein Straftäter innerhalb der EU auch nicht zweimal für das gleiche Vergehen verurteilt werden. Darauf verwies gestern die Staatsanwaltschaft in Frankfurt. Sie überlegt nun, ob die Niederlande – statt der Auslieferung – vielleicht die Übernahme der Strafverfolgung durch Deutschland beantragen könnten. Dann würde hier ein neues Ermittlungsverfahren gegen den deutschen Staatsbürger Dieter H. eingeleitet – die Sache mit dem gefälschten Pass sei längst verjährt. Das für Auslieferungen zuständige Oberlandesgericht Frankfurt kann sich auch vorstellen, dass sich die Niederlande und Deutschland dann auf eine Vereinbarung über die Vollstreckung der Strafe einigen.
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