Massenproteste in der Türkei

Aufgrund der Wirtschaftskrise fordern tausende aufgebrachte Demonstranten den Rücktritt der Regierung Ecevit. Der Premier deutet die Möglichkeit eines Rückzuges an

ISTANBUL taz ■ Mehr als 70.000 wütende Basaris und Einzelhändler in Ankara, rund 40.000 in Izmir, weitere Tausende in Konya, Mersin, Adana und Gaziantep – der türkische Mittelstand stürmte gestern die Straßen und forderte den Rücktritt der Regierung. Vor allem die Hauptstadt Ankara wurde durch Demonstranten lahm gelegt.

Außer den Einzelhändlern hatten sich auch viele Taxifahrer den Protesten angeschlossen und mit ihren Autos zentrale Kreuzungen blockiert. Am Nachmittag kam es zu ersten Zusammenstößen mit der Polizei, die in Straßenschlachten ausarteten. Als Demonstranten versuchten, Polizeisperren zu durchbrechen, um Richtung Parlament zu marschieren, ging die Polizei mit Räumpanzern vor und setzte Wasserwerfer ein. Es gab mehr als 100 Verletzte, 60 Personen wurden festgenommen.

Am Montag hatte die Regierung von Ministerpräsident Ecevit noch versucht, die Gemüter der aufgebrachten Händler zu beruhigen, die angesichts der immer schlimmer werdenden Wirtschaftskrise reihenweise Pleite gehen. So hatten Ecevit und seine Berater gehofft, durch eine teilweise Stundung von Schulden, die die meisten Händler in der Regel gegenüber der staatlichen Halk-Bank haben, den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Jedoch ist das Gegenteil der Fall. Am Dienstag schwenkte die bislang staatstragende Industrie- und Handelskammer, der größte Arbeitgeberverband, unter dem Druck der eigenen Basis auf die Linie der Rücktrittsforderungen ein. Angeblich soll der Chef des Arbeitgeberverbandes Generalstabschef Kivrikoglu getroffen haben, um über eine Ablösung der Regierung zu sprechen.

In den Medien mehren sich die Spekulationen um einen unmittelbar bevorstehenden Rücktritt von Ecevit. In einer Rede vor seiner Fraktion deutete der 76-jährige Regierungschef gestern erstmals an, dass er eventuell zu einem Rückzug bereit sei. Er sei von allen seinen Ämtern immer freiwillig zurückgetreten, sagte er gegenüber den Abgeordneten seiner DSP. Wenn es eine Alternative zu seiner Regierung gebe, werde er das wieder tun.

Die derzeit am häufigsten ins Spiel gebrachte Alternative zur regierenden Dreierkoalition sind keine Neuwahlen, weil man fürchtet, damit das Chaos nur noch zu vergrößern, sondern eine durch den Staatspräsidenten eingesetzte Notstandsregierung, die sich quer zu allen Parteien ihre Mehrheiten im Parlament sucht oder per Dekret regiert. JÜRGEN GOTTSCHLICH

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