Der Botschafter des Fiaskos

Der Schriftsteller Martin Kessel, der heute 100 Jahre alt geworden wäre, ist ein Vergessener im Lande. Jetzt ist sein satirischer Berlin-Roman „Herrn Brechers Fiasko“ aus dem Jahre 1932 wieder neu erschienen –und hat nichts an Aktualität verloren

Kessel beschrieb Deutschland als Land der Dienstwilligen und Oberkellner

von JENS RÜBSAM

Im Verlaufe seiner Besuche, die er Anfang der 50er-Jahre namhaften Dichtern abstattete, bat der Berliner Maler Michael Ostwald die für ein „Portrait vor ihm Sitzenden nicht nur um ein wenig Geduld – nein, auch um eine kleine Notiz“. Um ein paar Worte auf die Frage „Warum schreiben Sie?“ oder, wenn es zu der Frage nichts zu sagen gebe, um eine sonstige für den Künstler typische Anmerkung. Erich Kästner antwortete dem Maler: „Weil ich die Sprache liebe und die Menschen gern habe“, Friedrich Dürrenmatt schrieb ein knappes: „Berufshalber“, Hilde Domin merkte an: „Weil ich eine wirklichere Wirklichkeit brauche.“ Martin Kessel dagegen gab Ostwald einen Aphorismus mit auf den Weg: „Wer geboren wird, ist auf seine Eltern hereingefallen.“

Zufall? Gewiss nicht. Aus dem einen Satz, den Martin Kessel dem Maler Michael Ostwald in sein Buch „Dichterbesuche“, erschienen 1956, diktierte, lässt sich viel herauslesen: dass der Dichter Kessel ein Mann der Ironie war, voll witziger satirischer Fröhlichkeit, dass der Dichter Kessel ein Skeptiker war, der sich wenig Illusionen über die Welt gemacht hat, dass das Leben des Dichters Kessel irgendwie einem Fiasko glich.

Martin Kessel, der heute einhundert Jahre alt geworden wäre, ist ein Vergessener im Lande. Sein Name kommt einem nicht in den Sinn, soll man die bleibenden Autoren dieses Jahrhunderts aufzählen. Dabei ist Kessel gleichermaßen ausgewiesen als Romancier und Lyriker wie als Essayist, Meister des Aphorismus und Chronist Berlins. Literaturwissenschaftler sagen gar, er sei „der Getreueste nach Alfred Döblin“. Drei Romane liegen von ihm vor, ein Dutzend Erzählungen, viele Gedichte und noch mehr ironische Miniaturen – ja, sie liegen vor, aber in den Bücherregalen stehen sie nicht.

Mit Preisen wurde Martin Kessel geehrt: 1926 Kleistpreis, 1954 Büchnerpreis, 1961 Fontanepreis: Im gleichen Jahr bekam er das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik verliehen, was er mit der spitzen Bemerkung kommentierte: „Wer Orden nötig hat, beweist nur, dass er sie nicht verdient, und wer sie verdient, hat sie nicht nötig.“ Mit Lob wurde Martin Kessel bedacht: bei der Verleihung des Büchnerpreises 1954 hieß es in der Laudatio: „Der Preis ehrt den Erzähler und Lyriker, dem es stets um die prunklose Wahrheit der Wirklichkeit geht, den Essayisten und Meister des Aphorismus, der mit dem Blick des unbestechlichen Moralisten die Schwächen der Zeit aufdeckt, um den Glauben an den Menschen wachzuhalten.“ Bei der Überreichung des Fontanepreises 1961 wurde ihm beschieden: Kessel habe aus Berlin eine „literarische Landschaft“ gemacht; Bundespräsident Lübke gratulierte dem Dichter 1966 persönlich zum 65. Geburtstag und nannte ihn einen „Meister der Novelle“.

Trotz alledem: Ein Publikum fand Martin Kessel nie. Vielleicht, weil er nie gefällig schrieb, sich nie eine positive Utopie erlaubte, sich nie literarischen Moden unterwarf, Abstand hielt zu Gruppen, die für literarischen Wirbel sorgten. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki befand 1966: „Gut ist der Ruf, dessen sich der Schriftsteller Martin Kessel in literarischen Kreisen erfreut, und doch ist er ein erfolgloser Schriftsteller geblieben.“

Erfolglos im Sinne von Auflagenzahlen. „Ich bin kein Geschäft für Rowohlt“, notierte Kessel selbst einmal 1952 in einem Brief an einen Freund. Martin Kessel war ein Stiller im lauten Literaturbetrieb, ein Außenseiter. Kaum ein öffentliches Wort ist von ihm bekannt. Und wenn er sich einmal äußerte, wie bei der Verleihung des Fontanepreises 1961, dann klang immer auch ein Hauch von Resignation mit. Es sei eben so, dass es derjenige Dichter schwer habe, der nicht dem leichten Publikumsgeschmack folge.

„Aber“, sagt der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Zimmermann heute, der Kessel in den Siebzigerjahren oft in seiner kleinen Wohnung in der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz besucht hat, „er war nicht verzweifelt, er war nicht voll Jammer.“ Mag sein, dass ihm sein kräftiger, sarkastischer Humor über vieles hinweggeholfen hat.

Die Künstlerkolonie am Breitenbachplatz: Eine schwere Backsteinsiedlung im Süden Berlins, gebaut im Quadrat mit viel Grün im Innenhof, gedacht als bezahlbare Wohnstätte vor allem für Schauspieler, Musiker, Poeten. An den Hauseingängen finden sich kleine Tafeln. Tafeln, die an einstige Bewohner erinnern – an Ernst Bloch beispielsweise und an Klaus Kinski. Am Hauseingang Laubenheimer Straße 5 findet sich kein Hinweis. Vergessen auch hier: Martin Kessel.

Dabei ist Kessel wie kaum ein anderer Literat Berlin immer treu geblieben. Geboren 1901 im vogtländischen Plauen, kam er schon Anfang der Zwanzigerjahre nach Berlin. Seit 1923 wohnte er am Breitenbachplatz. Hier verstarb er auch, an seinem 89. Geburtstag, am 14. April 1990. In aller Stille. In Armut. Die Not des Dichters lässt sich erahnen, wenn man die Briefe liest, die Martin Kessel an Freunde schrieb. 1951 ließ er seinem Schriftstellerkollegen Wolfgang Goetz die Zeilen zukommen: „Ich habe viel Zeit. Ich taumle allein durch die Gegend, es ist niemand da, der mitlacht, das Frühstück, das vor allem, bleibt mir im Halse stecken. Ich weiß nicht, wie es mit Ihrer Zeit steht, sonst würde ich Sie gern einmal besuchen.“ Ein Jahr später bekennt er: „Es geht mir einfach zu schlecht, das heißt, dass wir, meine Frau und ich, nur bei äußerster Sparsamkeit durchkommen. Ich brauche mich Ihnen gegenüber nicht zu genieren, aber ich verdiene wahrhaft nicht mehr als etwa 57 DM im Monat.“ An seinen Freund Walter von Molo schrieb er Monate später: „Gewiss, man muss wissen, was man auf sich nimmt, wenn man sich einer so halsbrecherischen Sache verschreibt wie dem Dichten, man braucht eine große Portion Askese und Selbstentäußerung, aber das heißt doch nicht, dass man sich seiner Rechte begibt und als Narr herumlaufen müsste oder nur noch als Almosenempfänger und Bittsteller.“

Martin Kessel war keiner, der je um etwas gebeten hat. Weder die Verleger noch die Akademie der Künste, deren Mitglied er war. Er tat sich schwer, Hilfe anzunehmen. Es war ihm peinlich, von Schriftstellerbeihilfen leben zu müssen. Zu ertragen schien er es nur mit Sarkasmus. In einem Brief an die Akademie merkt er an: „Es ist eine Hilfe, die ich zu würdigen weiß und von der ich glaube, dass sie auch angebracht ist, nicht zuletzt, weil sie sich in sozusagen brotlose Produkte umsetzen lässt, unabhängig vom immerwährenden Fließband der in lauter Konsumbetrieb verstrickten Verleger. Es ist wirklich ein Kreuz, dass man bei diesen Herren ein Konto hat, das nichts weiter einbringt als höchstens die Unkosten, das heißt, die vier Mark fünfzig im Monat, die Gottfried Benn einmal für sich zusammengerechnet hat, bevor er sich entschloss, etwas zeitgemäßer ins Horn zu blasen, was sich dann aber als Irrtum erwies. Na, heil Hitler.“

Dichten war für Kessel eine „Mission, auch wenn das etwas sehr pathetisch klingt.“ Dichten sei „eine Sache des ganzen Lebens“, sagte er einmal. Gemeint sei nicht „die Totalität der Gegenwart“, sondern „ein Gesetz, das man in sich hat, das man entwickeln muss, das man ausbilden muss, nicht hui, hui, hui, haste nicht gesehen.“ Vor 1933 gehörte Martin Kessel zu den literarischen Hoffnungen des Landes. Er reihte sich ein in die Generation der Kästner, Reger, Horváth. Für seine Großstadtgedichte „Gebändigte Kurven“ bekam er 1926 den Kleistpreis, ein Erfolg waren auch seine 1929 unter dem Titel „Betriebsamkeit“ erschienenen Novellen.

Zu dieser Zeit schrieb er bereits an seinem ersten großen Roman „Herrn Brechers Fiasko“ – ein Berlin-Roman, der die Geistesfauna Ende der Weimarer Republik widerspiegelt, ein satirisch-moralistischer Büroroman, der von Angestellten in einem Medienmoloch nach Art des Hugenberg-Konzerns erzählt. Einer von ihnen ist ein zynischer Kompromissler, der zum Personalchef berufen wird, ein anderer ist ein kritischer Individualist, der die Schrecknisse unterm Büroteppich erkennt.

„Herrn Brechers Fiasko“ ist ein Roman, mit dem Martin Kessel wahrscheinlich sein großes Glück hätte finden, einen großen Erfolg hätte feiern können. Es war ja die Zeit der Angestellten-Romane. Der Jubel um Siegfried Kracauers „Die Angestellten“ (1929) als Beschreibung einer „neuen sozialen Figuration des 20. Jahrhunderts“ war noch nicht verhallt. Irmgard Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“ (1931) war gerade erschienen, die Geschichte einer Rechtsanwaltssekretärin, die aus der Provinz loszieht, um in Berlin die große Welt zu erobern. Gabriele Tergit hatte mit „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (1931) ein als „bester Zeitroman“ gefeiertes Buch vorgelegt. Ein Großstadtroman, der im Berliner Presse- und Gesellschaftsmilieu der Zwanzigerjahre spielt.

„Ich verdiene wahrhaft nicht mehr als etwa 57 Mark im Monat“

Zwei Wochen vor Heiligabend des Jahres 1932 erschien auch Kessels Angestelltenroman „Herrn Brechers Fiasko“. Doch er fand kein öffentliches Echo mehr. Kessels Roman passte so gar nicht zu dem, was wenige Wochen später, mit Hitlers „Machtergreifung“, kommen sollte. Es durfte keine verkrachten Existenzen mehr geben, wie sie Martin Kessel in Doktor Geist und Max Brecher beschrieb. Die Zeiten hatten rosig zu sein und nicht düster. Wer Deutschland als „das Land der Postbeamten, Dienstwilligen und Oberkellner“, als „das Land der Venus mit der Nähmaschine“ und als „das Land der Übermenschen der Leistung“ beschrieb, hatte keine Chance in der neuen Zeit.

Nach nicht einmal acht Wochen verschwand „Herrn Brechers Fiasko“ aus den Buchläden. „Diesen Rückschlag“, sagt der Literaturwissenschafter Hans Dieter Zimmermann, „hat er nie verwunden.“ Zweimal noch, 1956 und 1978, ist bei Suhrkamp „Herrn Brechers Fiasko“ aufgelegt worden, beide Male, erneut, ohne nennenswerte Wirkung. Nie schienen die Zeiten geeignet für die Wirklich- und Fürchterlichkeiten der Arbeitswelt, für die Beschreibung von Angestellten, die aus Angst, beseitigt zu werden, pausenlos produzieren.

Vielleicht heute? Knapp siebzig Jahre nach der Erstausgabe ist „Herrn Brechers Fiasko“ dieser Tage wieder neu erschienen. Für den Schriftsteller Klaus Völker hat der Roman nichts an Aktualität verloren. „Ist Berlin nicht wieder so etwas wie eine Medienstadt, ein ganzes Medienunternehmen? Und fragen wir uns nicht wieder: Was spielt der Einzelne für eine Rolle darin? An welchem Rädchen werden wir bewegt oder an welchem Rädchen können welche Leute noch ein bisschen drehen?“

Kessels Roman ist brisant – im Jahre 2001 wie damals im Jahre 1932. Klaus Völker war mit Martin Kessel befreundet. Eine Ausgabe von „Herrn Brechers Fiasko“ hat er im Bücherregal stehen, versehen mit einer Widmung des Dichters: „Wer geboren wird, ist auf seine Eltern hereingefallen.“ Das Prinzip des Fiaskos – es hat den heute zu Unrecht vergessenen Dichter ein Leben lang begleitet. Literarisch und im Leben.

Martin Kessel, „Herrn Brechers Fiasko“. Schöffling & Co, Frankfurt/M. 2001, 49,80 DM