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: Lebenslügen

Ein Lebender kommt vorbei

Mi, 20.45 Uhr, Arte

Rote-Kreuz-Beobachter aus dem Ausland ließen sich in Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern über die wahre Situation der Gefangenen täuschen. Weil es bequemer war, nichts zu sehen? Weil es einfacher war, sich mit den Tätern und Machthabenden zu identifizieren? Einfacher, sich im netten Gespräch mit den Lagerkommandanten zu verständigen, als das Schweigen der Häftlinge zu deuten, die für den Besuch Theater spielen mussten?

All diese Fragen stellt Claude Lanzmann seinem Interviewpartner, dem Schweizer Delegierten des „Internationalen Komitees vom Roten Kreuz“, Maurice Rossel, nicht. Doch er konfrontiert den ehemaligen Diplomaten schmerzhaft mit seinen eigenen Widersprüchen. Dieses Interview, das Claude Lanzmann 1979 während der Dreharbeiten für seinen Film „Shoah“ führte, wurde erst jetzt filmisch zu der Dokumentation „Ein Lebender kommt vorbei“ aufgearbeitet. Lanzmann zeigte darin, wie schwierig es ist, einen Menschen aus seinem Konstrukt von festgefahrenen Lebenslügen herauszureißen. Er führte vor, dass einer wie Rossel, der damals seinen Bericht über Auschwitz ohne jegliche Anklage schrieb, sehr wohl die zu Skeletten abgemagerten Häftlinge gesehen hatte. Dass er es jedoch vorzog, den Worten des Lagerkommandanten Glauben zu schenken, mit dem man sich so herrlich über das „Bobfahren“ austauschen konnte. Auch dass Theresienstadt, nach Rossels damaligem Bericht „eine ganz normale Stadt“, dies keineswegs war, und Rossel dies zwar wusste, aber nicht wissen wollte, arbeitet Lanzmann detailliert heraus.

In diesem Film ist nichts weiter dokumentiert als der ganz gewöhnliche Opportunismus, der unter totalitären Regimes bis zur Mittäterschaft führen kann. Ein Interview ist mehr als Stichworte geben und Mikrofone zur Verfügung stellen. Ein Interview ist Schwerstarbeit, die hohe Kunst, beharrlich zu insistieren, sich mit analytischem Sachverstand und psychologischem Geschick auf sein Gegenüber einzulassen. Das Resultat ist ein eindringlicher Film, der alle gängigen Muster der Vergangenheitsbewältigung radikal konterkariert. GITTA DÜPERTHAL