Warten auf den Tod

Stündlich erwarten die Angehörigen der hungerstreikenden Gefangenen in der Türkei die nächste Todesnachricht. Aber das Land hat andere Sorgen

ISTANBUL taz ■ „Als ich in den Knast kam, konnte mein Bruder mich nicht sehen. Er war krank und lag im Bett. Auch die anderen beiden Zellenbewohner beteiligen sich an dem Hungerstreik und konnten schon nicht mehr laufen. Mein Bruder kann kein Wasser mehr trinken und da ist niemand, der ihm etwas geben kann. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich warte auf die Nachricht, dass mein Bruder tot ist.“

So erzählt der Bruder von Ecevit Sanli, der sich seit 174 Tagen an dem Hungerstreik von rund 250 Gefangenen in der Türkei beteiligt. Elf waren bis gestern Nachmittag gestorben, zehn weitere schweben in unmittelbarer Lebensgefahr. Vertreter der Ärztekammer in Izmir, die einige Gefangene im Knast besuchen konnten, berichten, dass viele von ihnen mittlerweile irreversibele gesundheitliche Schäden davontragen werden, selbst wenn sie jetzt wieder Nahrung zu sich nehmen würden.

Über 50 der Hungerstreiker sind in Krankenhäuser verlegt worden. Es gibt es widersprüchliche Informationen darüber, ob hungerstreikende Gefangene nach der Verlegung zwangsernährt werden. Bislang haben die meisten Ärzte lediglich bewusstlose Gefangene mit einer Infusion versorgt, bis diese sich wieder selbst dazu äußern konnten, ob sie behandelt werden wollen oder nicht.

Einige Angehörige berichten aber nun von Zwangsernährungen in Krankenhäusern. Bei etlichen Gefangenen scheint allerdings der Zeitpunkt, wo sie selbst durch Infusionen nicht mehr gerettet werden können, schon erreicht zu sein.

Der Hungerstreik begann im Herbst letzten Jahres, nachdem bekannt geworden war, dass das Justizministerium inhaftierte Mitglieder linker Organisationen in neu gebaute Hochsicherheitsgefängnisse verlegen will. Im Unterschied zu den alten Gefängnissen, wo die Häftlinge manchmal mit bis zu 100 Gefangenen in großen Trakten untergebracht waren, gibt es in den neuen „F-Typ“-Gefängnissen entweder Einzel - oder Dreimannzellen. Linke Organisationen wittern darin Möglichkeiten der Isolationshaft und der Zerschlagung ihrer Kaderstrukturen in der Haft und begannen einen Hungerstreik.

Nachdem mehr als 100 Gefangene bereits über 50 Tagen gehungert hatten, ließ die Regierung im Dezember 20 Knäste von der Gendarmerie stürmen. Dabei wurden über 20 Gefangene getötet. Anschließend wurden rund 1.000 Häftlinge zwangsweise in die neuen Gefängnisse verlegt.

Angeführt wird der Hungerstreik von der „Revolutionären Volksbefreiungspartei“ (DHKP/C), der sich andere linke Organisationen bald anschlossen. Die wichtigsten Forderungen sind die Schließung der Hochsicherheitstrakte sowie die Abschaffung der Antiterrorgesetze und der Staatssicherheitsgerichte der Türkei. Während das Justizministerium bis heute behauptet, viele Gefangene würden sich nur unter massivem Druck der Organisation an dem Streik beteiligen, verweisen die Sympathisanten darauf, dass die Gefangenen mit dem Hungerstreik weitermachten, auch nachdem sie in die neuen Trakte in Einzelhaft verlegt wurden.

Die schwere türkische Wirtschaftskrise und eine massive Repression gegen Unterstützer der Gefangenen außerhalb der Gefängnisse hat dazu geführt, dass der Streik der Gefangenen in den letzten Wochen kaum noch wahrgenommen wurde. Selbst jetzt, angesichts täglich sterbender Hungerstreiker, gibt es nur wenige öffentliche Reaktionen. Das Land ist wegen der Krise in Aufruhr, die Regierung kann jeden Tag zurücktreten und kaum jemand kümmert sich um das Schicksal der hungerstreikenden Gefangenen.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

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