Fragen und getragen werden

■ Im Rollstuhl sitzen heißt geholfen werden – eine Reise durchs Bremer „Viertel“

Der Ostertorsteinweg ist so eine Welt. Brillen, Kaffee, Schuhe – gibt es erst nach zwei Treppen. Oder drei. Oder einer. Deshalb kennen Matthias Botter und Ria Burghardt die Viertel-Schneise nur als Pflas-ter- und Schienenmeile, als unendliche Reihe von Fenstern, in denen Dibbern in Rosa an Rot lehnt, in denen Seide sich an Plastikpuppen schmiegt, die neue Naters neben dem alten Fontane liegt. Matthias Botter und Ria Burghardt sitzen im Rollstuhl.

„Bitte machen Sie sich bemerkbar“, steht an einer Apotheke unter einem Aufkleber mit dem blauen Symbol für Rollifahrer. Daneben die Stufe: Bitte machen Sie sich bemerkbar. Die Apotheke befindet sich – pardon – im Berliner Wedding, aber selten wird das Prinzip so klar, nach dem die Stadt für Rollifahrer funktioniert. Auch das Viertel – und nicht nur das Viertel.

Das Bemerkbarmachen nervt. „Ich lass' mir nicht gern von Wildfremden helfen“, sagt Ria Burghardt. Die Haltung – „da kommt eine Rollifahrerin, wir helfen“ – findet Ria Burghardt „doof“.

Gerhard-Marcks-Haus. Stufen. Burghardt und Botter rollen vorbei. „Unzugänglich“, sagt Botter. Das würde nun Direktor Jürgen Fitschen ganz anders sehen. „Wenn Sie ganz kurz vorher anrufen, dann kann jemand helfen“, sagt er, spricht von der „Verzahnung des Altbestands“ mit dem Neuen, von der Substanz von 1820 und davon, dass das mit den Rollstuhlfahrern „traditionell ein Problem dieses Hauses ist“. Es folgt – und das wird noch oft kommen – der Verweis auf andere Städte, in denen es „auch so“ sei.

Gegenüber steht das Haus der Wagenfeld-Stiftung. Das hat vorne zwar die gleichen Treppen, aber an der Seite eine Rampe. Tja, sagt Fitschen, das Haus sei ja auch viel später umgebaut worden. „Inzwischen ist man schlicht sensibler.“ Zum Schluss noch einmal der dringende Appell: Anrufen, bemerkbar machen, Hilfe ist da.

So auch im Theatro. Auch davor eine – winzige – Stufe. Für Gehende fast unbemerkt, für Rollis unüberwindbar. Es sei denn, jemand hilft. „Das Reinkommen ist noch das kleinste Problem“, sagt Betreiber Barry Randecker, Rollifahrer könne man „reinhieven“. Aber die Toilette sei „ein richtiges Problem“. Die ist nämlich im Keller. Deshalb war ihre Unerreichbarkeit für Nicht-Gehende „gleich nach der Eröffnung ein Thema“, sagt Randecker, „richtig peinlich“ sei das gewesen. Inzwischen wisse man sich zu helfen: Rollifahrer sollen die Klos im benachbarten Theater benutzen, und wo der Schlüssel für die Tür dazwischen ist, „wissen hier alle“. „Wer ist denn alle“, fragt Matthias Botter, „ich weiß es nicht“. Das Personal ist gemeint, das muss gefragt werden.

Für das Theater gilt dasselbe: RollifahrerInnen müssen sich vorher anmelden. Dann gibt es Parkplätze, Rampen, Hilfe. Menschen im Rollstuhl sitzen im Theater zwar am Rand und sehen bei manchen Aufführungen nicht das gesamte Bühnenbild. „Das geht ihnen wie anderen Zuschauern auch, die am Rand sitzen“, sagt die Pressesprecherin, aber es gehe doch nun mal nicht anders: Rollis passen nun mal nicht in die Stuhlreihen. Das sei in vielen Städten nicht anders.

Casablanca. Fragen und getragen werden. „Ich will aber nicht fragen“, sagt Ria Burghardt. Die Toilette unerreichbar, einen Stock höher. „Man müsste komplett umbauen“, sagt eine Frau von der Geschäftsführung, die bitte ohne Namen bleiben will, und in diesem Jahr sei ein Umbau geplant – „ein prima Denkanstoß“ findet sie da die Sache mit den Rollis. Überdies gehörten Menschen im Rollstuhl trotzdem zu den Stammgästen.

Ria Burghardt und Matthias Botter nicht. Ausflüge wie diese müsse man vorher planen. „Spontaneität“, sagt Ria Burghardt, „kommt in unserem Leben kaum vor.“ Sie bleibt deshalb viel zu Hause.

Weiter. Brillen, Schreibwaren, Mode aus Berlin – Treppen. Humboldt-Bücher, Bennecke-Wein, Provida-Getingel, Kochkunst, Penny mit Sonderangebots-Geranien („Wir sind für Sie da!“), Tchibo, Scarpovino, Kramer, Litfass. Fleischerei Tietjen hat einen ebenen Zugang mit Automatiktür. Dafür gibt es hier nur Stehtische. Das Ortsamt, die Kneipen auf den Höfen, das Ambiente, die Schauburg. Die Sparkasse.

Die Sparkasse hat zwei Flügeltüren aus Glas, es folgen Treppen. Unten rechts ein Klingelknopf, darauf das Rollisymbol. Klingeln, warten. Derweil drängeln sich die Menschen vorbei, hinein und heraus, die Treppen rauf und runter. Und alle so hilfsbereit. „Ich bin die ganze Zeit am Sabbeln, dass ich nicht raus will“, sagt Matthias Botter. „Halblösung“, nennt er die Rolliklingel, „die haben entweder ein schlechtes Gewissen, oder was?“ Ria Burghardt sagt lakonisch: „Wenigstens steht man hier im Warmen.“

Nicht, dass die Passanten unwillig wären. Sie wollen helfen und meinen es gut. „Es wird immer schrill, wenn ich sage, ich brauche die Hilfe nicht“, erzählt Matthias Botter, „dann sind sie beleidigt.“

Wie Menschen im Rollstuhl von anderen gedacht werden, zeigt die Sprache. „Rollstuhlfreundlich“, schnaubt Botter, „was für ein Wort. Ich sage dazu: barrierefrei“.

Barrierefrei ist auf dieser Viertel-Tour das wenigste. Die Kunsthalle natürlich. Manche Läden. Der Weltladen im Ostertorsteinweg hat – als einziger in einer langen Reihe von Absätzen – eine kleine Rampe vor seiner Eingangstür. Mehr ein diagonal geteiltes Kantholz, das aus dem kleinen Absatz eine winzige Schräge macht. War bestimmt nicht teuer. Fällt überhaupt nicht auf. Genauso wenig wie die kleinen Stufen vor dem Gros der Läden. Nur, dass Leute wie Matthias Botter und Ria Burghardt hier hereinkommen. Weit kommen sie nicht: Der Weltladen selbst hat zwei Ebenen – erreichbar über Stufen. Da brauchen sie dann bloß um Hilfe zu bitten.

Die Welt ist voller Stufen. Voll von Beton, Stein und Metall, einander zugewandt in einem Winkel von 90 Grad. Senkrecht an waagerecht an senkrecht.

Text: Susanne Gieffers

Fotos: Nikolai Wolff