Defilee am Verbrennungsofen

Statt Menschenblut bloß überfahrene Hunde? Caryl Churchill zeigt in ihrem Stück „In weiter Ferne“, wie Menschen im Krieg und in der Mode kaputt gemacht werden. Falk Richter hat die Gewalt der Worte sehr bedrückend in der Schaubühne inszeniert

von ESTHER SLEVOGT

Es war wieder einer dieser berühmten Schaubühnenabende, wo man schon nach einer Stunde wieder draußen auf dem Ku’damm steht und über den Fortgang des angefangenen Abends sinniert. Man flanierte in Gegenden mit größerer Kneipendichte. Mit ziemlich gedrückter Stimmung allerdings, was auf keinen Fall gegen den Abend spricht. Im Schaufenster von Louis Vuitton sahen die Glieder der spindeldürren Plakatmodels plötzlich misshandelt und verrenkt aus. Die Extravaganzen der neuesten Prada-Kollektion ließen einen irgendwie schaudern, und das Understatement der Jil-Sander-Modelle wirkte noch zynischer als sonst.

Schuld daran war Caryl Churchill, die momentan als bedeutendste britische Gegenwartsdramatikerin gehandelt wird. Schon beim Festival Neuer Internationaler Dramatik im vergangenen November hatte es ein kurzes Churchill-Stück im Programm gegeben, „This is a Chair“, auch ein kleines Regiemeisterstück von Thomas Ostermeier, das den Totalverlust sämtlicher Zusammenhänge zwischen einzelnen Menschen, Werten und Diskursen der westlichen Gesellschaften mit frappant simplen Mitteln sichtbar machte. In ihrem neuen Stück „In weiter Ferne“ sehen wir die Geschichte nun weitergehen. Erleben Menschen bei merkwürdigen Zivilisationstechniken, für die Menschen geopfert werden. Hören sie über ästhetische Fragen diskutieren, während zu dieser Ästhetik das Töten von Menschen gehört.

Zwei junge Hut-Designer reden über ihren Beruf, über aktuelle Trends und die Ideen hinter ihren Kreationen. Der junge Mann hat zum Beispiel kürzlich einen Hut gemacht, der ein abstraktes Bild der Straße sein sollte. „Keiner hat's kapiert, aber ich wusste, was es war!“ Die beiden gehören, das merkt man schnell, zur Spitze der Branche. Wer für die Paraden, von denen hier die Rede ist, Hüte kreieren darf, der hat es geschafft. Trotzdem sorgen sich die beiden Kreativen, es wurden Rationalisierungsmaßnahmen angekündigt. Auch wundern sie sich über die Art, wie sie ihre Aufträge bekommen.

Im nächsten Bild sieht man, was es mit den seltsamen Paraden auf sich hat: Geschundene Gestalten, Männer, Frauen und kleine Kinder defilieren gefesselt in grauen Kitteln vorbei in den Tod. Auf dem Kopf tragen sie aberwitzige Hutkreationen, drehen sich damit einmal kurz ins Publikum und gehen langsam in eine Art Verbrennungsofen hinein.

Dann wieder die beiden Designer, die genau wissen, was geschieht: kein Entsetzen, kein Mitleid mit den Opfern. Das Ganze finden sie völlig normal. Ein bisschen bedauern sie nur, dass die kunstvollen Hüte mit den Leichen verbrannt werden; dass es nur der prämierte Siegeshut ins Museum schafft. Kein Wort über die Toten und die Umstände ihres Todes. Das Grauen schleicht sich ganz unspektakulär in die Szene. Es wird nicht moralisiert, nicht angeklagt, sondern bloß konstatiert. Seht, so ist es.

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und schaut. So fing im ersten Akt alles an. Von oben steigt ein Mädchen im weißen Nachthemd eine Leiter herab. Sie kann nicht schlafen. Die Frau im Stuhl ist ihre Tante und spricht sie mit sanfter Stimme an. Hat für die Angst einflößenden Geschichten des Mädchens immer wieder eine plausible Erklärung: Kein menschlicher Schrei, sondern bloß der Schrei einer Eule. Kein Menschenblut, hier wurde bloß ein Hund überfahren. Aber das Mädchen lässt sich nicht beruhigen. Satz für Satz bringt es immer Ungeheuerlicheres ans Licht. Erzählt von misshandelten Menschen, draußen im Schuppen, von Blut, wimmernden Kindern und dem Onkel, der irgendwie im Zentrum des Grauens steht. Das Mädchen hat alles beobachtet, als sie nachts im Baum saß. Scharf prallen Sätze aufeinander, nach und nach entstehen Bilder eines Terrorregimes.

Caryl Churchill, die 1938 geboren ist, vermischt surreale und naturalistische Elemente zu einer merkwürdig subtilen Dichte. Man spürt den Einfluss des absurden Theaters der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Jetzt, im Jahr 2001, wirkt das Surreale ziemlich real. Während sich in der letzten Szene im Dialog der drei Protagonisten Bilder eines Krieges entwickeln, in dem sämtliche Naturgewalten, Menschen, Tiere und sogar Pflanzen miteinander kämpfen, spürt man Churchills aberwitzige Lust am Absurden. Und gleichzeitig weiß man: So ist es, so wird es sein. Falk Jäger und seinen drei Schauspielern Jule Böwe, Robert Beyer und Tina Engel ist damit ein fesselnder und bedrückender Abend gelungen.

Nächste Termine: 19., 21., und 23. bis 25.4., 20 Uhr, Schaubühne