Die EU opfert ihre Werte einem strategischen Kalkül

Das Gefängnisdrama zeigt: Ein Land mit Problemen wie die Türkei ist von einer Aufnahme in die EU Lichtjahre entfernt. Aber das traut sich in Brüssel niemand laut zu sagen

BRÜSSEL taz ■ Wenn irgendwo auf der Welt die Menschenrechte verletzt werden, kann das betreffende Regime einer prompten Reaktion aus Brüssel sicher sein. Denn christlich-humanistische Werte bilden das Identitätsfundament der Europäischen Union. Und „Außenbeziehungen“ sind gleich hinter „Binnenmarkt“ zum wichtigsten gemeinschaftlichen Politikfeld aufgestiegen, üppig ausgestattet mit Personal: ein Ratsrepräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik (Javier Solana), ein Kommissar für Außenbeziehungen (Chris Patten) und ein Erweiterungskommissar (Günter Verheugen).

Das Schweigen zum Gefängnisdrama in der Türkei erhält unter diesen Voraussetzungen ein besonderes Gewicht. Im Dokument zur Beitrittspartnerschaft, das beide Seiten unterzeichnet haben, wird gefordert, die Folter schnellstmöglich abzuschaffen. Darüber hinausgehende Kommentare hält Brüssel für überflüssig.

„Wir können doch den Türken nicht vorwerfen, dass sie ein modernes Gefängnissystem einführen wollen“, meint hilflos Verheugens Sprecher Jean-Christophe Filori und offenbart damit das ganze Dilemma: Demokratische Kräfte in der Türkei nutzen die EU-Anwartschaft, um Reformen voranzutreiben.

Gleichzeitig bleiben die alten Strukturen unangetastet. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass Häftlinge in moderneren Zellen mit weniger Insassen den Quälereien des Personals stärker ausgesetzt sind.

Ein Land, das solche Probleme hat, ist von der Aufnahme in die Europäische Union Lichtjahre entfernt. Das traut sich aber in Brüssel niemand laut zu sagen. Denn die strategische Bedeutung der Türkei als Bollwerk gegen die islamische Welt ist noch gestiegen, seit Europa ein eigenständiges Sicherheits- und Verteidigungssystem aufbaut.

Seit mehreren Monaten sperrt sich das Nato-Mitglied Türkei dagegen, dass die Europäische Union im Bedarfsfall auf Nato-Infrastruktur zurückgreifen kann. Ohne diese Möglichkeit aber bleibt die europäische Kriseneingreiftruppe ein Papiertiger.

Das alte Muster setzt sich also fort: Die Nato braucht die Türkei als Brückenkopf der westlichen Welt. Die Europäische Union braucht die Türkei als Teil der Nato. Diesem strategischen Kalkül opfert die Gemeinschaft ihren Ruf als Hüterin der Menschenrechte. Und das ausgerechnet in einem Land, das irgendwann selbst Teil der Gemeinschaft werden soll. DANIELA WEINGÄRTNER