Management der Triebe

Sexualität wird in intimen Details immer öffentlicher behandelt – in Talkshows, Presse und Psycholiteratur. Längst besteht die öffentliche Moral nicht mehr im Verschweigen, sondern im grenzenlosen Ausplaudern des Geschlechtlichen. Eine neue Politik der sexuellen Befreiung muss deshalb über eine neue, individuelle Schamkultur verhandeln. Denn Scham ist notwendig. Nicht um das Begehren zu unterdrücken – sondern um es zu retten

von BARBARA DRIBBUSCH

Nicole ist Hausfrau und aus Kiel. Mit ihrem Exmann Thomas, so sagt sie, sei der Geschlechtsverkehr „nicht das Gelbe vom Ei“ gewesen. Thomas habe immer zu früh seinen Orgasmus gekriegt, „da war ich im Nachteil“. Ihr Neuer, der Uke, schneide besser ab. „Die Trefferquote liegt bei 99 Prozent“, teilt sie zufrieden mit. Der Gelobte, Uke mit Namen und von eher gewichtiger Statur, grinst breit in die Kamera. Exmann Thomas wird gleich auftreten und die Dinge aus seiner Sicht erläutern, hier in der „Peter Imhof“-Show auf Sat.1.

Die nachmittäglichen Talkshows im Privatfernsehen sind ein guter Ort, um zu erleben, wie öffentlich mit Sex inzwischen umgegangen wird. Je intimer die Details, desto öffentlicher wird darüber gesprochen. Mit den Talkshows im Privatfernsehen, in denen Hausfrauen, Erwerbslose und Facharbeiter über Seitensprünge, Orgasmusschwierigkeiten und Fesselsex reden, hat der Bekenntniszwang seinen medialen Höhepunkt erreicht. Doch zur Arroganz besteht kein Anlass: Die Nachmittagsshows liefern nur die exhibitionistische Variante, während Magazine und Psycholiteratur in einer Flut von populärwissenschaftlichen Ratgeberartikeln die gehobene Version des Sexklatsches verbreiten.

Das hat Folgen: Während vor einigen Jahrzehnten alles darangesetzt wurde, eine repressive Moral abzuschaffen und über das Sexuelle offen zu reden, so müsste man heute das Gegenteil versuchen. Eine neue Politik sexueller Befreiung müsste eine neue Schamkultur fördern. Denn ohne Scham gibt es keine Erotik. Und erst aus dem Besonderen in der Begegnung von bestimmten Personen entsteht Leidenschaft.

Den öffentlichen Diskursen über den Sex sei es gelungen, „zu funktionierenden und zu wirksamen Momenten seiner Ökonomie zu werden“, klagte der Philosoph Michel Foucault. Seinen Befunden nach kommt das grenzenlose öffentliche Sexgeplauder nicht einer Befreiung gleich. Vielmehr etabliert es neue Machtverhältnisse. Heute ist es nicht mehr peinlich, über Sexualität zu reden, dafür aber umso peinlicher, zugeben zu müssen, dass in der Praxis gar nicht so viel läuft.

Aus mehreren internationalen Studien geht hervor, dass die Hälfte der Befragten seltener als einmal pro Woche Geschlechtsverkehr hatte. Der Hamburger Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt fand in Langzeituntersuchungen an StudentInnen zudem heraus, dass die Häufigkeit des Beischlafs in den vergangenen Jahren sogar abgenommen hatte. Das Geschlechtsleben der Singles sei besonders „karg“, so Schmidt.

Millionen von Menschen in Deutschland haben längere Zeit überhaupt keinen Sex. Das Altern der Gesellschaft mit vielen Alleinstehenden dürfte zur Folge haben, dass künftig noch mehr vom Sex geträumt als tatsächlich praktiziert wird. Das Begehren wandert in die Fantasie. Gleichzeitig wächst die Flut der öffentlichen Bilder, wo gepeitscht, gehauen und in allen Stellungen und mit allen technischen Varianten gevögelt wird.

Talkshows, Magazine und Bücher betreiben passend dazu eine Art öffentliches Triebmanagement. In lang dauernden Beziehungen, die sich als glücklich bezeichneten, werde der Sex meist ausgelagert, erklärt der Paartherapeut Michael Mary. Der Sex werde verschoben „zum Beispiel in die Fantasie oder in die Selbstbefriedigung oder in Nebenbeziehungen“.

Folgt man der Psycholiteratur, dann gibt es gegenwärtig vier Beziehungsmodelle. Da ist zum einen das Standardmodell, die feste Zweierbeziehung mit sexueller Treue und wilden Fantasien, geknüpft aber an außereheliche PartnerInnen. Dann gibt es die Partnerschaft mit offenen Nebenlieben, von denen man sich gegenseitig erzählt, gewissermaßen das Modell „Siebzigerjahre“, das damals schon an wechselseitiger Überforderung scheiterte.

Schließlich wird in jüngster Zeit zunehmend wieder das Modell „19. Jahrhundert“ empfohlen, also die heimliche Liebesaffäre, bei der gegenseitige Diskretion zu den Spielregeln gehört. Besonders populär, aber verschleißend ist das „Modell Überlappung“, die so genannte serielle Monogamie, wobei der Partner alle paar Jahre wechselt. Dieses Modell hat Zukunft: Die Scheidungsquote liegt heute bei über dreißig Prozent und steigt sogar noch an.

Die Formen des Triebmanagements werden ideologisch unterfüttert durch einen Wissenschaftsstreit über die „Natur“ von Mann und Frau. Danach wird den Frauen, etwa von dem US-amerikanischen Artenforscher Edward O. Wilson, unterstellt, sie neigten aus evolutionsbiologischen Gründen zur Treue. Männer dagegen seien auf Promiskuität programmiert, weil sie ihre Gene möglichst breit streuen müssten. Biofeministinnen wie Sarah Blaffer Hrdy halten dagegen: Frauen müssten mehrere Männer ausprobieren, um am Ende dem Besten die Chance zu geben, sich im Nachwuchs zu verewigen.

Aus dem unterhaltsamen Streit um männliche und weibliche „Natur“ folgt unweigerlich die Debatte über den „Marktwert“ von Männern und Frauen, die Michel Houellebecq literarisch verarbeitete. Für den französischen Bestsellerautor bringt die Liberalisierung der Sexualität einen knallharten Partnerschaftsmarkt, der beruflich erfolglose Männer und ältere Frauen von Liebe und Sex ausschließt.

Die Darstellung eines Beziehungsmarkts wird gefördert durch Rollenvorbilder. Prominente wie der Schlagerstar Dieter Bohlen tauschen gewissermaßen vor den Kameras der Paparazzi ihre 36-jährige Geliebte gegen eine 21-jährige aus, zur Neuerwerbung fällt ihnen allerdings auch nur Pauschales ein: „Was ich an ihr toll finde? Sie ist hübsch. Sie sieht einfach Klasse aus!“

Die Wirklichkeit scheint die Klischees über den Markt zu bestätigen – doch die Klischees beeinflussen eben auch die Wirklichkeit, und das ist der entscheidende Punkt. Mancher hat bei aufstiegsorientierten guten Freunden schon diese Unsicherheit erlebt: Er hat eine Frau kennen gelernt und fühlt sich wohl mit ihr. Sie ist nach den üblichen Maßstäben nicht besonders hübsch, also kommt die besorgte Frage an die Freunde: „Wie findet ihr sie?“ Ganz so, als bestünde eine Art sozialer Rechtfertigungszwang. Ohne den Druck, eine weibliche Trophäe anschleppen zu müssen, hätte es diese Liebe leichter.

Die Debatte über allgemein gültige Marktwerte, ihre Wert- und Geringschätzungen, verschleiert, dass Begehren immer noch eine höchst individuelle Angelegenheit ist. Ein kompliziertes Zusammenspiel von Hormonen, chemischen Substanzen und Nervenzellen führt dazu, dass sexuelle Gefühle für einen bestimmten Menschen geweckt werden, betonen Neurobiologen.

Eine Physiognomie, die Erinnerungen weckt, ein Geruch oder eine Art, zu sprechen und zu schweigen, die an frühere Erfahrungen anknüpft, ein bestimmtes Lächeln – all das kann Gefühle für einen anderen erzeugen. Sich verknallen hat viel mit den Biografien zweier Menschen zu tun – und nur begrenzt etwas mit dem „Marktwert“ des anderen.

Um das Begehren zu retten, müssen daher die eigene Fantasie, die eigene Verklemmtheit geschützt und die inneren Räume dafür erweitert werden. Das Begehren, wie auch immer man es umsetzt, ist eine persönliche Erfahrung. Und genau darin liegt in einer Gesellschaft der zerstörten öffentlichen Schamkultur eine neue Utopie, man könnte auch sagen: eine neue sexuelle Freiheit.

BARBARA DRIBBUSCH, 44, Inlandsredakteurin der taz, moderiert das Forum: Wie wollen wir lieben? Single-Gesellschaft, sexuelleRevolution oder Markt der Beziehungen?Auf dem Podium unter anderen: Katharina Rutschky, Publizistin in Berlin, und Kurt Starke, Sexualwissenschaftler aus Leipzig. Sonntag, 29. April, 11–13 Uhr