Kniefall vor dem Leben

Helmut Zander brachte die Hospize nach Hamburg. Doch er starb zu Hause  ■ Von Sandra Wilsdorf

Er war einer der ersten, die sich öffentlich zu ihrem HI-Virus bekannt haben. Er war Theologe, Lehrer, Kämpfer, Hungerstreiker. Die Medien haben über ihn als einen der bekanntesten „AIDS-Aktivisten“ gesendet und geschrieben. Er war bekannt, jemand, in dessen Schein man sich sonnen konnte. Politiker, Wirtschafts- und Kirchenmenschen, Homosexuelle: Er verwirklichte Projekte mit ihnen, viele Projekte. Weil er nie verschwieg, ein Positiver zu sein, fand er keine Jobs, wurde immer wieder zusammengeschlagen, als „AIDS-Sau“ beschimpft und mit Drohanrufen terrorisiert.

Er war einer der ersten, die in Hamburg für ein Sterbehospiz gekämpft haben. Nun ist Helmut Zander gestorben, zu Hause. Arm, verzweifelt, einsam. Von den einstigen Mitkämpfern sind die meisten gestorben, viele in seinen Armen. Drei Freunde haben ihn die letzten Wochen begleitet. Keiner aus der Bewegung. Sie wollen ihre Namen nicht nennen, denn es geht ihnen nicht um sich, sondern um Helmut Zander. Und darum, dass er nicht vergessen wird.

1988 erschien Hemlut Zanders „Der Regenbogen – Tagebuch eines Aidskranken“. Seit 1986 wusste der damals 32-Jährige von seiner HIV-Infektion. Vielleicht war es eine Blutkonserve, vielleicht Sex ohne Kondom. Er hat das nie verfolgt, denn es hätte keinen Unterschied gemacht. Herausgekommen ist es jedenfalls nach einer Operation seiner Füße. Rechtsradikale hatten ihn zusammengeschlagen und waren mit dem Auto über seine Füße gefahren. Sie hatten ihm dabei alle Zehen gebrochen. Weil er sich für Menschenrechte in der Türkei einsetzte. Anfang der 80er hatte er zweimal durch sieben Wochen Hungerstreik auf Folter und Unterdrückung aufmerksam gemacht.

Er war Kurdenbeauftragter der UNESCO. Und er war Ideenhaber. Weil Kompromisse ihn enttäuschten und beleidigten, schob er Projekte an, aber begleitete sie nicht durch den Alltag. Vielleicht ist er auch deshalb in seiner Wohnung gestorben und nicht in einem der Hospize, für dessen Entstehung er schon vor 15 Jahren gekämpft hat. Er hat 1986 das „Regenbogen Projekt Hamburg“ mitgegründet. Das forderte selbstbestimmtes Leben und ein Hospiz. Zander und seine Mitstreiter arbeiteten sogar ein Konzept für das ehemalige Israelitische Krankenhaus in St. Pauli aus, in dem heute ein Pflegeheim ist. Unter anderen Freimut Duve, Jan Philip Reemtsma und Helga Schuchardt liehen dem Projekt als Kuratoriumsmitglieder ihre Namen. Der Senat vergab das Haus anderweitig. Das Projekt ging ein und mit ihm die Energie für den Kampf.

„Das Leben blühte unter seinen Händen“, sagt ein Freund, der zunächst nur ein Nachbar war und meint damit die Pflanzen, die Zanders Wohnung zu einem Dschungel gemacht haben, die 22 Nymphensittiche, die „ausflippten“, als Helmut Zander im Krankenhaus war, die Fische, die Terrarien und schließlich „Mr. Higgins“, den streitbaren Kater. „Er war ein Ästhet“, sagt der Freund. Begeisterte sich für Parfüms, Kräuteröle, Musik, Seide, Wein. „Ich mochte an ihm seinen Reichtum an Gefühl und im Kopf.“

Auch zu Menschen hatte Zander besonderen Zugang. „Er konnte gut zuhören“, sagt der Freund, der ihn als Schüler kennengelernt hat. Das war vor über zehn Jahren. Damals war er Schulsprecher und Zander kam, um über AIDS zu erzählen. „In allen Krisen hatte er mir etwas zu sagen“, sagt er und erinnert sich an die Abende, an denen Zander „wahnsinnig gut gekocht“ und eine Atmosphäre der Nähe geschaffen hat. „Für ihn war Gott zwischen den Menschen.“

Aber es gab auch die andere Seite. „Er war Perfektionist und Chaot“, sagt der Nachbar. Er war anspruchsvoll mit sich und anderen. War er ein schwieriger Mensch? Die Freunde lachen und sagen: „Er war ein sehr schwieriger Mensch.“ Hilfe anzunehmen, fiel ihm schwer. „Er ist lieber auf allen Vieren zur Waschmaschine gekrochen, als jemanden zu bitten, das für ihn zu erledigen.“ In den letzten Jahren hatte eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) Zanders Körper und Geist zunehmend zerstört. Diese Infektionskrankheit hat nur mittelbar mit dem HI-Virus zu tun, richtet aber ähnliche Grausamkeiten an wie die Toxoplasmose, die häufig in Verbindung mit AIDS auftritt, und vor der sich Zander sehr gefürchtet hatte: Spastiken, Sehstörungen, Schwachsinn. Normalerweise leben PML-Erkrankte nicht länger als sechs Monate. Helmut Zander hat es über drei Jahre geschafft. Aber die Krankheit hat ihn zerstört: Er fiel dauernd hin, konnte seine Hände nicht mehr bewegen, hörte und sah immer schlechter, er hatte Tinitus und Schmerzen.

Er hasste diesen Verfall. Er verbitterte, hasste sich, die Krankheit, die Welt. Nicht wahrnehmen zu können, machte ihn misstrauisch. „Er hatte sicher über 20 Pflegedienste durch“, erinnert sich der ehmaliger Schulsprecher. „Er brauchte fünf Minuten, um die Schwachpunkte der Menschen zu finden und sie damit fertig zu machen.“ Was er immer für die Menschen eingesetzt hatte, wandte sich nun gegen sie. In ein Hospiz wollte er nicht. „Vielleicht auch, weil er nicht wollte, dass die, mit denen er sich irgendwann zerstritten hatte, ihn so sehen“, vermutet die Freundin, die er beim Kampf für die Türkei kennengelernt hatte, und die ihn in seinen letzten Wochen begleitet hat.

Doch dem Chaos in seiner Wohnung wurde der Schwerkranke immer weniger Herr. Der Ästhet lebte am Ende auf einer Müllhalde. Er musste ins Krankenhaus. Er hat gemerkt, wie die Krankheit ihn verändert hat, wie aus seiner Liebe zu Menschen Verachtung geworden war. Er war sich selber untreu und fremd geworden. „Kurz vor Weihnachten ist er vor sich selber in die Knie gegangen“, erinnert sich die Freundin. „Ich will so nicht sein“, hat er gesagt.

Die Freunde holten ihn zum Sterben nach Hause, mit Hilfe eines Pflegedienstes organisierten sie eine rund-um-die–Uhr-Betreuung. Gut vier Wochen hat er noch gelebt. „Er hat grausam gelitten“, sagt die Freundin, ist dem Tod immer wieder ausgewichen. Vielleicht lag das daran, dass er sich nicht verabschieden konnte. Von nichts. Auch nicht vom Leben.