Ein Staat wird gefährlich

Die Übernahme des kritischen Senders NTW durch einen Staatskonzern zeigt: Russland ist auf dem Weg zu einem autoritären Regime. Und das nicht nur in der Medienpolitik

Erst als die Regierung Kredite verweigerte, wurden die Missstände im Kreml selbst für NTW zum Thema

Natürlich glaubt niemand in Russland, dass Wladimir Putin sich aus dem Konflikt zwischen dem Fernsehsender NTW und dessen Hauptaktionär Gasprom herausgehalten hat. Dazu ist viel zu offensichtlich, warum die NTW-MitarbeiterInnen im Morgengrauen des vergangenen Sonnabends durch eine Wachmannschaft der Erdgasgesellschaft ihres Arbeitsplatzes beraubt wurden: weil ihre kritische Haltung gegenüber der Regierung und dem Tschetschenienkrieg dem russischen Präsidenten nicht in den Kram passte.

In den Augen des Kreml mangelte es dem Sender schon länger an patriotischem Geist. Lautet doch Präsident Putins Lieblingssatz: „Russland ist eine Großmacht.“ Nun sind richtige Großmächte gewöhnlich auch kulturelle Metropolen – was man vom heutigen Russland schwerlich behaupten kann. Im Gegenteil: Der Coup gegen NTW am vorigen Wochenende hat Putins Reich ein großes Stück weit vom früher viel beschworenen Weltniveau entfernt – und zurückversetzt in die globale Provinz. Von dort aus bis ins Neandertal des Medienzeitalters ist es nur noch ein kleiner Schritt. Kremlnahe Politiker haben bereits ihre Bereitschaft angekündigt, auch diesen zu tun.

Dem Moskauer Parlament Duma liegt ein Gesetzentwurf vor, der es Ausländern verbietet, eine Mehrheit der Aktien russischer Medienunternehmen zu erwerben. So soll verhindert werden, dass ausländische Magnaten wie der CCN-Gründer Ted Turner russischen Kollegen wie dem bedrängten NTW-Besitzer und Chef der „Media-Most“-Holding, Wladimir Gussinski, finanziell zu Hilfe kommen. Offenbar will die russische Regierung um jeden Preis verhindern, dass sich ihr Volk unliebsame TV-Sendungen ansieht. Konsequenterweise sollte der Kreml gleich die Verbreitung ausländischer Sendungen per Satellit im Keim ersticken – und damit auch generell die Entwicklung des Satellitenfernsehens im eigenen Lande.

In gewisser Weise hat Gussinski selbst zu seiner heutigen Situation beigetragen. Demokratische Freiheiten hat der NTW-Gründer – ganz im Geiste des Neuen Russland – einseitig gleichgesetzt mit den eigenen finanziellen Interessen, mit grenzenloser Freiheit des Privatkapitals, mit dem Verzicht der Unternehmer und des Staates auf soziale Verantwortung. Gussinskis Medien zeigten das Elend des kleinen Mannes in Russland – aber sie fragten nicht nach dessen Ursachen. Linke Bewegungen im Ausland kamen in den NTW-Programmen nicht vor. Über Demonstrationen von Globalisierungsgegnern wurde nach dem Motto „Deren Sorgen möchten wir mal haben“ berichtet. Die antimilitaristische NTW-Berichterstattung im ersten Tschetschenienkrieg wurde durch den kritiklosen propagandistischen Einsatz aller Gussinski-Medien für die Wiederwahl Präsident Jelzins erkauft. Erst als dessen Regierung danach der Media-Most Kredite verweigerte, wurden die Missstände im Kreml selbst für den Medienmogul zum Thema.

Die Moral von NTW-Chef Gussinskis mag kaum Gnade im Urteil der Geschichte finden – die Professionalität seiner Journalisten schon. NTW-Generaldirektor und Starmoderator Jewgeni Kisseljow wusste einfach, dass ein unter Konkurrenzbedingungen arbeitender Sender Enthüllungen liefern, provozieren und radikale Fragen stellen muss, um interessant zu bleiben. Auch wenn das NTW-Team zu so manchem geschwiegen hat – gelogen hat es nie. Wer von den Reportern und Redakteuren nachträglich ein anderes politisches Bewusstsein verlangt, der sollte auch an Marx’ Satz denken, dem zufolge man nicht in einer Gesellschaft leben kann und zugleich außerhalb von ihr.

Wenn es in der russischen Alltagskultur in den letzten Jahren etwas gab, worauf zumindest wir dort lebenden ausländischen Journalisten oft neidisch waren, so waren es die Sendungen von NTW. Hinter ihnen blieben wir regelmäßig hoffnungslos zurück. Die KollegInnen von NTW bewegten sich im eigenen Land wie Fische im Wasser; natürlich gelangten sie leichter an tabuisierte Informationen. Und hinter alledem stand – neben viel Witz – auch noch jede Menge Geld. NTW war spannend und technisch raffiniert. Einfach cool. NTW machte süchtig. Und zwar weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus.

Russische Emigranten und Russlandfreaks in aller Welt ließen sich Kabelfernsehen legen, um sich auch in der Fremde bei Sendungen wie „Der Held des Tages ohne Krawatte“ oder der politischen Puppenspielsendung „Kukly“ zu beölen. Wer wird nun in der Bronx oder in Charlottenburg den Fernseher anschalten, um „Gasprom-TW“ zu sehen, wie der Sender seit der Übernahme im Volksmund genannt wird? Noch produziert der schiffbrüchige Kern der alten NTW-Mannschaft seine Informationsprogramme – beim Fernsehkanal TW-6, den Boris Beresowski als Landesteg zur Verfügung gestellt hat. Der plötzliche Drang eines Altoligarchen, die Pressefreiheit zu schützen, ist verdächtig. Beresowski bereicherte sich Anfang der Neunzigerjahre durch geschickte Kontrakte am Niedergang bis dato staatlicher Firmen. Am Hofe Boris Jelzins spielte er lange die Rolle einer grauen Eminenz – bis herauskam, dass sein Privatgeheimdienst die Präsidentenfamilie abhörte.

Zuletzt betätigte sich Beresowski als Putins Königsmacher – als Finanzier und Drahtzieher von allerlei Wahlmanipulationen. Noch vor dem Coup vom Sonnabend veröffentlichte seine Haustageszeitung Kommersant unter der Überschrift: „Haltet ein!“ einen Appell an die um NTW streitenden Parteien. Darin heißt es in Anspielung an die KGB-Vergangenheit Putins: „ Ich habe in ihm den eingefleischten Tschekisten unterschätzt. Ich werde mich bessern. Den nächsten Präsidenten müsst ihr euch selbst wählen. Irrt euch bloß nicht.“ Beresowski würde Putin wohl kaum als „Fehler“ betrachten, hätte ihn der Präsident nicht von sich aus fallen lassen. Oligarch ist man in Russland eben immer nur von Kremls Gnaden.

Der Coup gegen NTW hat Russland ein gutes Stück weit in die globale Medienprovinz zurückversetzt

Lange werden die gehetzten NTWler bei Beresowskis Sender nicht Zuflucht finden. Die Schließung der beiden zu Gussinskis Imperium gehörenden Blätter Segodnja und Itogi in der vergangenen Woche zeigt, dass die Jagd weitergeht. Und wenn die Steuerpolizei am Montag schon beim Fernsehkanal TNT auftauchte, der am Sonnabend die Sendungen der geflohenen NTW-Redakteure ausstrahlte, dann kann man sich ausrechnen, wann Steuerpolizei oder Staatsanwaltschaft auch zu Beresowskis TW-6 kommen werden. Denn noch bedient sich der russische Präsident bei seinem Vorgehen solcher Instanzen, die zumindest äußerlich denen eines Rechtsstaats gleichen. Aber das muss nicht so bleiben.

Falls auch das letzte unabhängige Medium in Russland der Möglichkeit beraubt würde, ein eigenes Licht auf die Dinge zu werfen, dann könnte Putin ruhig im Dunkeln weitermunkeln. Auch auf den Anschein legaler Methoden könnte der Präsident in diesem Fall endlich verzichten. Mit dem Coup gegen NTW ist Russland ein Stück gefährlicher geworden. Nicht nur für seine eigenen Bürger. BARBARA KERNECK