Aufschwung statt Terror

So manch einer will fort aus Arbil, denn „wer garantiert uns, dass Saddam Hussein morgen nicht wieder alles zerstört?“

aus Arbil und Sulaimaniya INGA ROGG

Wer die Region vor zehn Jahren das letzte Mal besuchte, erkennt sie heute kaum wieder. An die Stelle der Zeltstädte, in denen sich damals in Dohuk tausende Flüchtlinge drängten, sind feste Siedlungen getreten. Die halb verfallenen Regierungsgebäude wurden einem Lifting unterzogen. Dörfer, Schulen, Krankenhäuser, Universitäten, Manufakturen, kleine Fabriken – mit dem Stolz eines ehemaligen Guerillakommandanten, der heute Regierungsverantwortung trägt, zählt Nechirwan Ahmed die Errungenschaften seiner, der kurdischen Regierung auf.

„Made in Kurdistan“ prangt in großen Lettern unter der kurdischen Flagge auf dem Etikett der fein gestrickten Socken, die das Büro des Nechirwan Ahmed zu besonderen Anlässen verschenkt. Vor zehn Jahren hätte darauf die Todesstrafe gestanden. Für den rührigen Gouverneur von Dohuk, der nördlichsten Provinz Irakisch-Kurdistans, ist es ein Beweis für die Regierungstauglichkeit der Kurden.

Vision vom Wirtschaftswunder

Die lärmigen Autowerkstätten wurden vom Stadtzentrum Dohuks an den Ortsrand verbannt. Im Basar, den man wegen des grässlichen Abwassergestanks am besten mied, duftet es heute nach gekochten Bohnen und süßen Rüben. In den Auslagen der Schaufenster finden sich neben Importwaren aus dem Iran, den Golfstaaten und der Türkei auch vor Ort produzierte Waren wie Schuhe, Kleidung, Möbel oder Eisenwaren. Wenn es nach Nechirwan Ahmed geht, ist das erst der Anfang eines Aufschwungs, der Dohuk schon bald zum blühenden Handelsplatz machen soll.

Im Jiyan-Hotel ist man auf das erhoffte Wirtschaftswunder bereits vorbereitet. Mit großzügigen Suiten, Konferenzräumen, Tennisplätzen, Swimmingpool und Spielkasino bietet es alle Annehmlichkeiten für den Reisenden. Hier sind die vornehm gekleideten Geschäftsleute aus den Golfstaaten, der Türkei oder Europa anzutreffen, aber auch zwielichtige Gestalten wie Kunsträuber, Alkohol-, Zigaretten- oder Menschenschmuggler.

Im Süden der Stadt ist ein modernes Villenviertel entstanden. Selbstbewusst stellen hier altgediente Parteikader ihren Reichtum zur Schau. Rosa, grün und anthrazitfarben funkeln die Marmorfassaden in der Mittagssonne. Balustraden aus hellem Sandstein, filigrane Fenstergitter und kleine Erker mit ziegelgedeckten Dächern vermischen sich mit der klaren Formensprache traditioneller Flachbauten.

Das Geheimnis dieses Wohlstands wird an der gut eine Autostunde von Dohuk entfernten Grenze bei Zakho gelüftet. Etwa 500 Tanklastwagen mit je 4.000 Litern irakischem Diesel passieren hier täglich die Grenze. Wie hoch die tatsächlichen Einnahmen aus dem Schmuggel sind, wird von den Beteiligten wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Ein Großteil davon fließt in die Kassen des irakischen Regimes und in die der heimlichen Herrscher jenseits der Grenze: der türkischen Kommandeure und ihrer Helfer. An sie müssen die Lastwagenfahrer Gebühren und Bestechungsgelder zahlen, die sich im Monat auf umgerechnet mehrere Millionen Mark belaufen.

Am Widerstand des Militärs sind bislang auch alle Versuche Ankaras gescheitert, den offenen Embargobruch zu unterbinden. Die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), in deren Regierungshoheit das Gebiet liegt, bezahlt aus den Einnahmen nach eigenen Angaben die Gehälter der Staatsbediensteten und ihrer Sicherheitskräfte.

„Das ist doch kein Leben hier“

Der Großteil der Bevölkerung profitiert vom offiziellen UN-Programm „Öl für Lebensmittel“. Ohne die Erlöse aus dem irakischen Ölexport, die zu einem bestimmten Prozentsatz an das selbst verwaltete Irakisch-Kurdistan gehen (siehe Kasten), ginge es ihr vermutlich noch genauso schlecht wie vor zehn Jahren. Große Sprünge sind dennoch nicht drin. Vier Monatsgehälter müsste Hamid, der Sekretär von Gouverneur Nechirwan Ahmed, auf dem Basar von Dohuk etwa für eine einfache Waschmaschine hinblättern, obwohl er mit umgerechnet etwa 120 Mark doppelt so viel verdient wie ein normaler Angestellter.

Im Vergleich zu Dohuk nimmt sich die Bezirkshauptstadt Arbil eher ärmlich aus. Noch immer wird die Stadt fast ausschließlich über Notstromaggregate mit Elektrizität versorgt, weil der UN-Sanktionsausschuss die Einfuhr von Ersatzteilen für das marode Stromnetz verweigert. Doch auch hier wird gebaut und gepflanzt. Manchmal zeigt sich der Wandel eher an kleinen Dingen wie der Reparatur einer Seitenstraße.

„Das ist doch kein Leben hier“, klagt der junge Taxifahrer während der Fahrt durch die Stadt. Bei jeder Bodenwelle scheppert der 25 Jahre alte Lada. Der 23-jährige Fahrer hat Jura studiert. „Ich kann machen, was ich will, ich finde keine Stelle.“ 2.000 Mark hat er für den schrottreifen Wagen bezahlt, und er ist der einzige seiner Familie mit einem Job. Das Geld haben Verwandte aus Europa geschickt. Dorthin will er jetzt ebenfalls, denn auf seine wichtigste Frage findet er keine Antwort: „Wer garantiert uns, dass Saddam Hussein morgen nicht wieder alles zerstört?“

Je weiter man nach Süden kommt, umso ärmer werden die Städte und Dörfer. Wie Mahnmale reihen sich die Lager, in die 1988 fast die gesamte Landbevölkerung deportiert wurde, an der Verbindungsstraße Kirkuk-Sulaimaniya auf. Hier ist die Not so groß wie früher. Obwohl das UN-Programm Kurdistan einen Bauboom beschert hat, leben hier noch immer diejenigen, die nicht in ihre Dörfer zurückkehren können. Aber auch jene Neuankömmlinge, die in den letzten Jahren aus den Erdölgebieten um Kirkuk vertrieben wurden. Sie erinnern daran, dass das Bagdader Regime nichts an Grausamkeit verloren hat.

Es ist Donnerstagabend, das kurdische Wochenende hat begonnen. Auf der Saholstraße in Sulaimaniya flanieren junge Frauen und Männer zu viert oder fünft an den Süßwarenshops und Erfrischungsständen vorbei. An einer Ecke diskutieren einige Unermüdliche über Schein und Sein kurdischer Politik. Zu Zeiten des Regimes war eine solches Treiben mitten in der Stadt undenkbar. Gruppen von mehr als zwei Personen galten dem wachsamen Auge des irakischen Staatsschutzes als verdächtig und wurden sofort auseinander getrieben.

Schutz vor Saddams Regime

Die neu gewonnene Freiheit hat der heimlichen Kulturhauptstadt Kurdistans jede Menge Debattierclubs, Ausstellungen und Publikationen eingebracht. Mit über 50 Zeitungen und Zeitschriften hat die Stadt die lebendigste Presselandschaft im gesamten Irak. Unabhängige Tageszeitungen gibt es aber auch in Sulaimaniya nicht. Und ob es sich die Patriotische Union Kurdistans (PUK) des Jalal Talabani wie auch die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Massoud Barsani künftig werden nehmen lassen, unerwünschte Blätter mit Verboten zu belegen, ist fraglich.

Angesichts der positiven Entwicklungen in Irakisch-Kurdistan stoßen hier im Norden die ständigen Klagen aus Bagdad über Sanktionen auf Skepsis. Es ist ein Vorwurf, den man in diesen Tagen oft hört: Bagdad verschleppe die Umsetzung der Resolution, damit das Elend im Land möglichst groß bleibe, um so den Druck auf die internationale Staatengemeinschaft zur Aufhebung der Sanktionen zu erhöhen.

Unisono fordern PUK-Führer Jalal Talabani und KDP-Chef Massoud Barsani Garantien, dass Kurdistan auch nach dem Ende der Sanktionen 13 Prozent der Erdölerlöse erhält. Zudem müsse der Schutz vor einem Angriff des Saddam-Regimes gewährt werden. „Zum ersten Mal bekommen wir für unser Öl nicht nur Giftgas und Bomben“, sagt ein kurdischer UN-Mitarbeiter. „Unsere Freunde müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. Allein schaffen wir das nicht.“