Teletubbie geht zu Boden

Torsten May verliert seinen EM-Kampf gegen den Ukrainer Alexander Gurov und muss sich einmal mehr die berechtigte Frage gefallen lassen, ob Boxen wirklich der richtige Job für ihn ist

aus Erfurt MARKUS VÖLKER

Nach dem Kampf musste Torsten May ins Krankenhaus. Über dem Auge klaffte ein vier Zentimeter langer Riss, den ihm sein Gegner Alexander Gurov in der achten Runde geschlagen hatte. Ringarzt Werner Wagner konnte die Verletzung nicht in der Erfurter Messehalle behandeln. So hatte May immerhin Gelegenheit, den Fragen auszuweichen, wie es nach seiner Niederlage weitergeht. Noch im Ring sagte er: „Ich will mich erst einmal beruhigen, in so einer Situation soll man nichts sagen.“

Vor dem Fight, der kein desaströses, aber doch bedenkliches Ende in ebendieser achten Runde genommen hatte – May ging zum ersten Mal in seiner gesamten Boxkarriere zu Boden –, wollte er den Fortgang seiner Laufbahn von der Schmach der Niederlage abhängig machen. Mays Vater Ulrich, der ebenso wie Bruder Rüdiger am Ring saß, mochte noch eine Perspektive für den Sohn sehen. Ein Cruisergewichtler mit 31 Jahren, das sei noch nicht so alt. „Wir sind aber nicht die Typen, jetzt impulsiv zu entscheiden“, sagte er. Er sah den Sohn vorn. Zwei der drei Ringrichter und das Publikum waren freilich anderer Meinung.

Nur der österreichische Kampfrichter Walter Schall hatte ein Einsehen mit May und punktete für ihn, während der Franzose Jean-Louis Legland und Rajko Djajic aus Jugoslawien Gurov jeweils mit vier Punkten in Führung sahen – bis der Ukrainer mit einer harten rechten Führungshand ans Kinn und einer Linken gegen die Schulter für die Entscheidung im EM-Fight sorgte. Trainer Ulli Wegner versuchte mit allen Mitteln, seinen Schützling im Kampf zu halten, zögerte quälend lange, bis er das weiße Handtuch zum Zeichen der Aufgabe schwenkte und den lädierten May endlich aus dem Schlaggewitter nahm.

Aus Südafrika, wo Wilfried Sauerland zurzeit weilt und den Kampf verfolgte, erging der Rat, Torsten May möge seine Karriere beenden, was eingedenk der Kommentare am Ring und des Kampfverlaufs zwingend erscheint. Auf den besten Plätzen stellte man fest, May bewege sich wie ein Teletubbie; vielleicht könne er dem Kampf noch eine Wendung geben, wenn er es mal mit einem Volley am Netz versuche, spotteten die Zuschauer im VIP-Areal.

Matchmaker Jean-Marcel Nartz meinte, May hätte den Gegner fünf Mal ausknocken können, und attestierte ihm „Größe“, allerdings nicht im Ring, sondern beim Verdauen von Niederlagen. „Da ist er ein Mann“, so Nartz. Das bewies Markus Beyer im Kampf um den Intercontinental-Titel zwischen den Seilen. Manuel Lopez ging in der siebten Runde schwer getroffen zu Boden. Somit blieb Sauerland „ein zweites Waterloo“ (Nartz) erspart.

Butterweich und im Dutzend schnitten Gurovs Schläge durch Mays Deckung. „Sein Deckungsverhalten haben sie irgendwie verhunzt“, sagte Trainer Wegner zur DDR-Boxschule Mays. „Automatisierte Dinge kriegt man halt nicht mehr raus.“ Demnächst möchte Wegner mit Sauerland über die Zukunft beraten. Wegner: „Wir werden alles tun, damit Torsten aufrecht durch die Straßen gehen kann.“ Gedacht wird an einen Job als Assistenztrainer im Sauerland-Stall. May arbeitet überdies an der Gründung einer Agentur, die olympische Randsportarten wie Fechten oder Ringen vermarkten soll.

Vorbei scheint die Zeit, in der sich alle Welt in Mays Psyche schraubte, um ein Substrat seines Zauderns zu entdecken. Stets wurde der hoch aufgeschossene, schlanke Athlet mit Fragen konfrontiert, ob er nicht einer Lebenslüge aufsitze und lieber hätte Basketballer oder Schwimmer werden sollen. Boxte May, traf er nicht nur auf einen Gegner, sondern immer auch auf ein Trauma, das sich mit einem Kampf auf Mallorca, am 31. August 1996, formte. RTL war gerade dabei, den schüchternen Ossi auf dem selben Amboss zu schmieden, auf dem der Fernsehsender Henry Maske in die richtige Passform klopfen ließ. May war das unheimlich. Der Gedanke widerstrebte ihm, zum Spielball des Boxbusiness zu werden. Er weigerte sich bis zuletzt, einen markigen Kampfnamen zu tragen. „Ich bin Torsten May“, sagte er, „das reicht.“

Der Instinkt des Ostlers, ungemütliche Situationen passiv zu erdulden, griff. Im Ring führte dieser Reflex zur Katastrophe. Wie gegen den Amerikaner Adolpho Washington. May wurde schlimm verprügelt. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte eine Gehirnerschütterung und ein Blutgerinnsel im Kopf. Mays Sohn erkannte den schwer lädierten Vater nicht wieder.

Nach dem Kampf gegen den Schweizer Stefan Angehrn vor vier Jahren musste er sogar zur Therapie. Mit Psychologin Inge Sonnenschein wurde an „Rollenerwartungen“ herumgedoktert. Durch blutende Cuts an das Debakel von Mallorca erinnert, gab der Sohn eines Berufssoldaten der NVA damals trotz Punktvorsprungs in Runde neun auf. Bunte („Er erkannte das schwarze Loch, in das sein Wille stürzte“) und Stern feierten danach den Mut zur Aufgabe. Der Rest der Republik machte im Warmduscher-ABC einen neuen Eintrag: Unter M wie May.

Der Auftritt in Erfurt hat May nicht jeden Respekt gekostet. Das sollte ihn aber keineswegs motivieren weiterzumachen. Es bedarf keines Debakels, um zu erkennen, dass „der liebe Kerl“ (Sven Ottke) nur zum Preisboxer taugt. Eine fünfstellige Summe entschädigt nicht gegen ein Gesundheitsrisiko, das für May zu hoch ist.