Last Exit Rostlaube

Jesus Jünger unter uns: Sie sitzen widerwillig im Seminar, haben Erfahrungen beim Fernsehen gemacht und einen verlebten Teint – die berüchtigten Langzeitstudenten

Jesus war der erste ewige Student. Er hatte lange Haare, lebte mit dreißig Jahren noch bei seiner Mutter. Und wenn er etwas tat, war das ein Wunder. Da könnt ihr nicht drüber lachen? Willkommen im Club der Langzeitstudierenden. Für alle Erstsemester: Langzeitstudierende sind diese faulen Säcke, die die so genannte Regelstudienzeit erheblich überschreiten. Die wahllos zwischen verschiedenen Fächern hin- und herwechseln, stets die Rückmeldegebühr zu spät überweisen, ein paar Mal zwangsexmatrikuliert worden sind, im Einführungsseminar durch ihren verlebten Teint und den überheblichen Gesichtsausdruck auffallen. Weil sie schon hart auf die dreißig zugehen und noch von der Zeit erzählen können, in der die Rostlaube noch nicht asbestsaniert wurde.

Liebe Studienanfänger, es gibt unzählige Gründe, sein Studium nicht nach geschmeidigen vier Jahren mit einem Magister oder Diplom oder Staatsexamen zu beenden: Kinderkriegen, Geldknappheit, Fernreisen außerhalb der Saison mit anschließendem Waffelverkäuferjob am Strand, Nichtbestehen von Klausuren, Freitodfantasien beim Verfassen von eigentlich lapidaren Hausarbeiten, generelle Organisationsunfähigkeit verbunden mit regelmäßigem Verschlafen. Das hat nichts mit Faulheit zu tun, denn oftmals arbeitet der gemeine Regelstudienzeitüberschreiter gern und hart. Er absolviert ein Praktikum nach dem anderen und bleibt einer kuscheligen Fernsehproduktionsfirma als feste Kraft verbunden. Denn dort bekommt er, was er an der Uni so noch nie erleben durfte: Anerkennung, Leistungsdruck, geregelte Arbeitszeiten, konstruktive Kritik, und der Chef kennt seinen Namen.

Während seiner Zeit als Kameraassistent, gar nicht mal so schlechter Pressetextverfasser und Studiogästebetreuer, sagen wir, nach zwei Jahren mit festem Einkommen und neuen Freunden aus der Medienbranche, beschleicht ihn das leise Gefühl der Sinnlosigkeit. Seine Oma beschwert sich, dass sie ihn noch nie im Fernsehen gesehen hat und eigentlich, erinnert sie ihn, wollte der immer noch Immatrikulierte schon von Kindesbeinen an Auslandskorrespondent sein und von Krisengebiet zu Krisengebiet ziehen. Er beißt also die Zähne zusammen, erklärt sich dem Chef (inzwischen duzt man sich) und geht wild entschlossen zurück an die Uni. In der dritten Semesterwoche vibriert in der Mittelhochdeutsch-Vorlesung das Telefon. Der Chef. Der Redakteur für die Havanna-Reisegeschichte hat sich den Arm gebrochen. Der Langzeitstudent hängt vom außerordentlich hohen Honorar noch zwei Monate Kuba dran. Wieder ist ein Hochschulsemester gelaufen, sein vierzehntes. Schnitt.

Im Alter von circa 29 Jahren fällt ihm auf, dass für die Prüfungsanmeldung noch ein Leistungsnachweis aus dem Grundstudium fehlt. Widerwillig sitzt der ewige Studierende im Seminar. Er hat wenig geschlafen. Gestern Nacht hat er die Festanstellung eines promovierten Kollegen gefeiert. Sein Teint ist verlebt, sein Blick überheblich.

Liebe Erstsemester, bitte bringt diesen verlorenen Seelen wenigstens ein bisschen Respekt entgegen. Nehmt sie in eure Referatgruppen auf, zeigt ihnen die neue Mensa und lasst sie ruhig mit ihren umfangreichen Erfahrungen beim Fernsehen angeben. Gebt ihnen das Gefühl, das richtige zu tun. Amen.

CHRISTA STORM