Amerika ist doch anderswo

Schriften zu Zeitschriften: Das Autorenteam des Readers „Die Stadt als Beute“ überdenkt in einem Sonderheft der „Widersprüche“ seine Befunde

Die Autoren verweisen freimütig auf die Leerstellen ihrer bisherigen Arbeit

„Aufräumen wie in New York?“, fragte der Spiegel 1997 – als Mittel „gegen Verbrechen, Drogen und Dreck in deutschen Städten“. Damals erschien das vielen, die sich schon länger mit der Veränderung des städtischen Raums beschäftigt hatten, wie ein Menetekel, und das Wort von der „Zero Tolerance“ machte die Runde.

Zur Sensibilisierung hatte vor allem der US-amerikanische Soziologe Mike Davis mit seinem Buch „City of Quartz – Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles“ beigetragen, das 1994 in deutscher Übersetzung erschienen war. Davis’ Analyse der Folgen neoliberaler Stadtentwicklung – unter ihnen der neue Sicherheitsdiskurs – führte allerdings hier zu Lande zu zwei folgenreichen Fehlinterpretationen. Zum einen wurde übersehen, dass sich Davis’ Diagnose nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen ließ: Gegen eine vergleichbare räumliche Trennung von Reichen und Armen, Weißen und Nichtweißen sprach nicht nur, dass die hiesigen Städte schon immer viel weniger Segregation aufwiesen. Darüber hinaus erwies sich die Struktur des deutschen Sozialstaats als besonders zäh. (Von einer solchen vorschnellen Übertragung amerikanischer Verhältnisse zeugt aktuell noch der jüngste Schwerpunkt der Zeitschrift Spex: Unter dem Titel „Überwachen und strafen“ sind dort ganze 15 Seiten der Ausweitung des US-Gefängnissystems gewidmet. Symptomatisch dabei ist, dass kein einziger Beitrag der Frage nachgeht, welchen Einfluss die Maxime „Delinquenz ausgrenzen und wegsperren“ in Deutschland gezeitigt hat.)

Schon vor zwei Jahren hatten die Sozialwissenschaftler Klaus Ronneberger, Stephan Lanz und Walther Jahn mit ihrem Band „Die Stadt als Beute“ versucht, solche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Nicht zuletzt ihr eigenes Engagement in den so genannten Innenstadtaktionen der 90er-Jahre, mit denen der Vertreibung von Obdachlosen, Junkies und Migranten aus den Kernstädten etwas entgegengesetzt werden sollte, hatte ihre Beschäftigung mit den Veränderungen in Deutschland notwendig gemacht.

Doch selbst diese Autoren schienen dem zweiten Fehler, der aus der Rezeption von Mike Davis’ Buch erwuchs, zu erliegen: Davis prognostizierte zwar einerseits eine düstere Zukunft, betonte aber andererseits immer die Bedeutung der handelnden Subjekte im städtischen Raum. Von dieser widersprüchlichen Darstellung war in „Die Stadt als Beute“ nur mehr die apokalyptische Zukunftsvision von der staatlich total kontrollierten Stadt erhalten geblieben. Diejenigen, die von dieser Entwicklung nicht profitieren, können dem offenbar nur noch ohnmächtig oder – wie im Fall der drei Autoren – diskursanalytisch beobachtend gegenüberstehen.

Jetzt allerdings gehen die drei Autoren, zusammen mit der Sozialwissenschaftlerin Ellen Bareis, als Gruppe SpaceLab in einem Sonderheft der Zeitschrift Widersprüche – Titel: „Fragmente städtischen Alltags“ – der Frage nach, welche Möglichkeiten die betroffenen Einwohner selbst haben, auf die Veränderungen des städtischen Raums einzuwirken. Die Redaktion der Bielefelder Zeitschrift überlies SpaceLab für diese Nummer die Zusammenstellung der Beiträge, die insgesamt nun ein etwas weniger lähmendes Bild zeichnen.

In ihrer Einleitung zum Schwerpunkt „Auf der Suche nach dem Subjekt“ zeigen die vier sehr freimütig die bisherigen Leerstellen ihrer Arbeit auf. Ausgehend von den Arbeiten des französischen Philosophen und Marxisten Henri Lefèbvre wollten sie nun – so das Projekt – der kollektiven Produktion des städtischen Raums, seinen Repräsentationen und den Räumen der Repräsentation im Alltag größere Aufmerksamkeit widmen. Mit den versammelten „Probebohrungen“ sollen verschiedene Wahrnehmungs- und Aneignungsweisen des städtischen Raums, auch über den Einsatz unterschiedlicher Textformen, präsentiert werden.

In der gelungenen Mischung findet sich dann auch eine hübsche Kurzgeschichte des Autors und DJs Imran Ayata („Kanak Rave auf dem Balkon“) über die kleinen Alltagstricks eines von Abschiebung Bedrohten. Ein Essay der Künstlerinnen Brigitta Kuster und Renate Lorenz kann einerseits die – im Sinne der Geschlechterverhältnisse – progressiven Momente von Boardinghäusern analysieren, andererseits auch ihre Funktion in einer vollkommen flexibilisierten Arbeitswelt aufzeigen, wobei in den Artikel großzügig Zitate aus dem Theatertext „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“ von René Pollesch eingefügt sind.

Jochen Becker aus Berlin, freier Autor (auch der taz), vergleicht in seinem Beitrag „Neue Mitte/Helle Mitte – Jumpcuts zwischen Hackeschem Markt und Platte“ die alltägliche Praxis der Aneignung eines urbanen Umfelds durch die Bewohner von Berlin-Mitte mit jener der Bewohner des Bezirks Hellersdorf. Er kommt zum Schluss, dass die „Mitties“, im Gegensatz zu den Hellersdorfern, eine erhebliche Definitionsmacht über ihr Quartier ausüben.

Für den Aufsatz „Refugien der Sicherheit – Einblicke in den suburbanen Alltag“ hat die Gruppe SpaceLab zahlreiche Interviews mit ehemals aktiven Linken, die „der Kinder wegen“ in die Vororte gezogen sind, qualitativ ausgewertet. Es stellte sich heraus, dass sie dem viel beschworenen Grauen der Einfamilienhaussiedlungen sehr wohl ein Stück emanzipative Lebenspraxis abtrotzen können.

In ähnlicher Weise haben Ellen Bareis und Tomke Böhnisch über eine Untersuchung in zwei so genannten Problemvierteln Frankfurts („Ressource oder Falle“) eine Antwort auf die Frage gesucht, „in welchen sozialen Positionen es gelingt, unterschiedliche Dimensionen sozialer Ausschließung erfolgreich zu bearbeiten“. In beiden Vierteln war es den Bewohnern durch Eigeninitiative – vor allem über „lose Netzwerke“ – möglich, ihre Wohnsituation zu verbessern. Es lohnt sich offenbar immer, noch einmal genauer hinzuschauen.

Mag der Blick auf die Stadt auch bisweilen zu kleinteilig erscheinen – als Ergänzung zu den großen Würfen der kritischen Stadtsoziologie und im Sinne von erst noch zu erfindenden Widerstandspraktiken ist er allemal notwendig.

CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

„Fragmente städtischen Alltags“,Sondernummer der Zeitschrift„Widersprüche“, Heft 78/Dez. 2000, 130 S., 21 DM. Klaus Ronneberger,Stephan Lanz, Walther Jahn: „Die Stadt als Beute“, Dietz Tasch., Bonn 1999, 240 S., 24,80 DM