Jäger des verlorenen Haares

Vom Wortspielteufel geritten reist unser kahler Held einmal um die ganze Welt

1. Station: Harbin, Provinz Heilongjiang, Nordchina, noch nördlicher als Wladiwostok. Ich stand hier vor dem Bahnhof, weil ich einmal wieder den Einflüsterungen des Wortspielteufels erlegen war. „Fahr da hin, nach Harbin, da findste ihn.“ Ihn, damit war mein Haarschopf gemeint, den ich vor nunmehr genau zwanzig Jahren über Nacht verloren hatte. Seitdem suche ich ihn, reise auf den kleinsten Hinweis rund um die Welt. Schließlich war er ein verdammt gut aussehender Haarschopf, seidenweich, mit einem leichten rötlichen Schimmer, der sich zeigte, wenn etwas Licht drauffiel.

Es war morgens gegen halb fünf, im Januar, die Sonne ging gerade auf. Hätte ich ein Thermometer gehabt, es hätte minus 30 Grad angezeigt, aber ich hatte keins. Eilig durchquerte ich die Stadt. Ich passierte eine Gruppe kleiner Kinder, die auf dem Weg zur Schule festgefroren waren. Ihre dünnen Ärmchen schienen mich um etwas zu bitten. Kurz überlegte ich, einem von ihnen das Haar zu stehlen; keins hätte es je wieder gebraucht. Doch jeder einzelne Schopf war viel zu schwarz und viel zu klein.

Dann stand ich am Ufer des Songhua. Mitten im Fluss, auf meterdickem Eis, erhob sich ein gewaltiges Tor wie aus Glas. Ach ja, das jährliche Eisskulpturenfest. Ich stieg hinunter zum gefrorenen Fluss, durchschritt das Tor und mietete von einem grinsenden Greis einen Schlitten, den ein zotteliger Ziegenbock zog. Ich fuhr hinüber zur Sonneninsel, wo die riesigen Schneeskulpturen standen. Als Erstes durchwühlte ich die 1:5-Kopie des „Tors zum himmlischen Frieden“. Weil ich nichts fand, schaute ich jedem Pinguinpapierkorb in das sperrangelweit geöffnete Müllschluckermaul. Von meinem Haarschopf nicht den Hauch einer Spur.

Ich fuhr zurück in die Stadt mit der Seilbahn, die die Firma Doppelmayr hier vor ein paar Jahren errichtet hatte. In der „French Bakery“ lief wie zum Hohn „Yesterday once more“. Ich bestellte an der Theke ein Schoko-Croissant. Der junge Chinese feixte. Da erkannte ich ihn. „Har, har, har, Harbin“, lachte der Wortspielteufel. Er hatte mich reingelegt. Ich war empört, nannte ihn „billig“, „einfallslos“ und „nahe liegend“. Das machte ihm Spaß. Bevor er sich wie üblich in Luft auflöste, raunte er mir etwas zu. Als ich wieder auf die Straße trat, fiel das inzwischen erworbene Thermometer auf minus 45 Grad.

2. Station: Ha Long-Bucht, Nordvietnam, Weltkulturerbe, angenehm subtropisches Klima. Zunächst durchsuchte ich die bizarren, steil aus dem Wasser ragenden Felsen. Ohne Ergebnis. Danach traf ich in Ha Long-City den Belgier. Er bot mir Visa-Karten und Heroin an, hatte aber den Schopf nicht gesehen. Während ich mit ihm trank, schickte ich meinen alten Knecht Hintner zum Friseur, sich nach meinen Haaren zu erkundigen. Seine hatten es auch wieder mal nötig. Hintner fand einen Verschlag an der Uferpromenade. Und kam erst am nächsten Tag ins Hotel zurück. Das Thermometer zeigte 19 Grad.

Es stellte sich heraus, dass der vermeintliche Friseursalon nichts anderes als ein Bordell gewesen war. Hintner jedoch hatte die Damen zurückgewiesen und auf einem Haarschnitt bestanden. Das war sein Fehler. Erst hatten die Huren gelacht, dann aber hatte sich doch eine bequemt, seine blonden Strähnen zu scheren. Währenddessen waren dicke Männer in den Salon gekommen und schnurstracks durch einen Perlenvorhang ins Hinterzimmer gegangen. Und da hatte ihn mein Knecht für einen Moment gesehen. Als er aber auf das rot schimmernde Etwas deutete, war es um ihn geschehen. Statt der Haare hatte ihm die „Friseuse“ beide Ohren abgeschnitten, seines Geldes beraubt und hinausgejagt.

Weinend und blutend behauptete Hintner, die Männer stellten im Salon mit meinem Haarschopf „Perverses“ an. Ich glaubte ihm kein Wort, packte ihn zornig und warf ihn in das Maul der nächsten Pinguinmülltonne. Sofort kam die vietnamesische Müllabfuhr. Der Müllmann entpuppte sich als alter Bekannter. „Har, har, Ha Long! Glatze, du fällst wirklich auf alles rein“. Der Wortspielteufel konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Als ich dann einen Moment nicht aufpasste, sprang er mir in den Nacken und begann mich zu reiten. Dabei sang er mit entstellter Stimme die Namen sämtlicher Haarorte der Welt: „Havanna, Harburg, Harare, Harvestehude, Hanoi, Pearl Harbour, Sahara ...“ Es war scheußlich. Und noch alberner und uninspirierter als beim letzten Mal. Immerhin war die Temperatur mit 23 Grad plus erträglich.

3. Station: Sahara? Warum eigentlich nicht? Plus 45 Grad am Tag, Minustemperaturen in der Nacht. Ich denke, hier werde ich meinen Schopf endlich finden. Auch wenn ich nie verstehen werde, warum es bei der Haarsuche so sehr auf die Temperatur ankommt. Vielleicht frage ich demnächst mal einen Föhn. Oder Jürgen Harharhabermas.

CHRISTIAN YNDIANA SCHMIDT