reichtum und armut: Sozialneid ist dringend angesagt
Gerade erst hat der Kanzler auf der Hannovermesse Konjunkturoptimismus verbreitet; seit gestern kann er sich auch über ganz viel neuen Wohlstand freuen. Deutschland ist ein reiches Land, und beinahe täglich kommen weitere Reiche hinzu: 1,5 Millionen Mitbürger sitzen auf einem Privatvermögen von jeweils über einer Million Mark.
Dennoch sind Sozialneid und Umverteilungsgelüste, so der regierungsamtliche Sachverstand, vollkommen deplatziert: Sorgen nicht gerade viele Reiche auch für soziale Sicherheit? Zudem ist an die eigene Klientel zu denken: Dank der Wertsteigerung von Immobilien und Aktien gehören irgendwann auch viele grün-rote Wähler zum erlauchten Kreis der Wohl(an)ständigen, sodass selbst der letzte Sozialromantiker seine Forderung nach Umverteilung aufgeben dürfte.
Kommentarvon ANNETTE ROGALLA
Trotzdem ist es an der Zeit, mal wieder über Gerechtigkeit nachzudenken. Und wenn die neue Mitte noch so sehr aufjault beim Gedanken an die Vermögensbesteuerung. Wer in der sozialen Marktwirtschaft reich wird, muss akzeptieren, dass es dabei zu Ungleichheiten kommt. Reiche können viel anstellen mit ihrem Geld; sie ermöglichen ihren Kindern eine glänzende Ausbildung, sich selbst als arbeitenden Vätern und Müttern eine gute Kinderbetreuung und können für Risiken, die das Leben bietet, besser vorsorgen. Wer Geld hat, muss sich nicht ängstigen, im Alter von der gesetzlichen Pflegeversicherung schlecht versorgt zu werden. Er kann sich eine umfassende private Krankenpflege leisten. Bei denen, die wenig ansparen können, schleicht sich hingegen Zukunftsangst ein. Moralisch gesehen wäre es also gerade jetzt geboten, Modelle zu entwickeln, wie sich der Reichtum besser verteilen lässt. Selbst wenn man sich damit dem Verdacht aussetzt, an simple Neidinstinkte zu appellieren.
Der Regierungsbericht liefert die staubtrockenen statistischen Argumente für die anstehende Debatte: Der Anteil der Menschen, die trotz eines Arbeitsplatzes zu den Armen gezählt werden, stieg zwischen 1993 und 1998 von 38 auf 44 Prozent. Die Zahl der überschuldeten Haushalte wuchs auf fast das Doppelte. Die Kluft zwischen den Hochverdienern und den Geringverdienern verbreitert sich. Die Polarisierung zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen ist in vollem Gange. Eine höhere Belastung der Reichen wäre also zu rechtfertigen. Mehr denn je. Wenn man denn verhindern will, dass die Polarisierung in der Gesellschaft weiter wächst. Doch dazu schweigt der Kanzler.
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