Hubschrauberlandeplatz auf dem Kopf

Der Vorhang gleitet zur Seite, und blitzblank ist die Haut dahinter – es ist soweit: kreisrunder Haarausfall

Wie jedes Sandkorn ist auch jedes Haar nummeriert, singt Bob Dylan, und wer in beiden Fällen gezählt hat, steht für ihn außer Frage. Ich halte ich mich da lieber raus, wo Naturwissenschaften und Metaphysik aufeinander treffen. Das lässt sich aber nicht immer durchhalten. „Willste mal seh’n?“, fragte K., und mir blieb nicht anderes übrig, als Ja zu sagen. Denn es beschäftigte ihn, belastete ihn, das war offenkundig und am Tonfall zu merken, der zwischen Trübsal und Wehklage changierte, am Hilfe suchenden Blick. Er hatte etwas verloren.

Sachte schob er mit Zeige- und Mittelfinger beider Hände Haarsträhnen auf seinem Hinterkopf wie einen Vorhang zur Seite. Blitzblank war die Haut darunter, eine runde Fläche wie ein Hubschrauberlandeplatz, wie eine Tonsur. „Kreisrunder Haarausfall“, sagte K. Es handele sich, medizinisch gesprochen, um Alopecia areata, um plötzlich einsetzenden, ursächlich unklaren Ausfall der Haare in Form kreisrunder bis ovaler, eventuell sich vereinigender Felder.

Im Gegensatz zu den symptomatischen Formen heile die Alopecia areata innerhalb einiger Monate, führe aber häufig zu Rückfällen. „Mit anderen Worten“, fasste ich vorlaut zusammen, „sie haben keine Ahnung, woran es liegt, schüren jedoch Hoffnung.“ Wer weiß, vielleicht war die stets belächelte, gar verlachte Drohung unserer Elterngeneration angesichts langer, hauptsächlich ungepflegter Mähnen, die ihre Kinder wg. Freiheit o. ä. trugen, doch nicht so absurd? „Wartet, wartet nur ab, die fallen alle aus und wachsen nicht nach.“ Als Zeichen meines Mitgefühls klopfte ich K. auf die Schulter, ohne darüber nachzudenken, dass vielleicht durch die Erschütterung weitere Haare ausfallen könnten. „Wird schon werden“, wollte ich ihm bedeuten. Aber es wurde nicht.

Es wäre gelogen, wenn ich behauptete, dass mir sofort die Ballade von der menschlichen Unzulänglichkeit eingefallen wäre, das war tatsächlich einige Monate nach der Demonstration des Kahlschlags, als K. davon berichtete, wie er eine Homöopathin konsultiert hatte, die zuerst Gespräche geführt hatte über seine „Lebenssituation“, seine „Ängste“, seine „Sorgen“. Ich bin umgehend misstrauisch gegenüber den Äußerungen eines Menschen, sobald er das Wort Angst im Plural verwendet, während K. anders reagierte, reagieren muste, denn sonst hätte er auf den Besuch bei der Homöopathin verzichtet. Nun schluckte er morgens drei oder dreißig Kügelchen und abends fünf oder fünfzig, die Zahl habe ich vergessen. Die erste Strophe jener Brecht’schen Ballade aber, von der ich nicht weiß, ob – und wenn ja, wo – Brecht sie geklaut haben mag, geht so: „Der Mensch lebt durch den Kopf / der Kopf reicht ihm nicht aus / versuch es nur, von Deinem Kopf / lebt höchstens eine Laus.“

Von K.s Kopf lebte nun die Homöopathin, und sie blieb nicht allein, denn das konvexe Feld der Nacktheit hatte sich vermehrt, war nun auch nicht mehr kreisrund, sondern hatte die Form des Gorbatschow’schen Muttermals, ungefähr jedenfalls. Nach über einem Jahr wechselte K. zu einem Star unter den Heilpraktikern, zu einer Koryphäe in Belgien, die versprach, dass die Sache in wenigen Wochen erledigt sein werde, und wenn nicht, müsse K. nicht erneut den Weg nach Brüssel machen, sondern solle einfach anrufen, dann würde er andere Kügelchen schicken.

Währenddessen wurde ich zum gelegentlichen Lobredner und heftigen Apologeten der Schulmedizin. Man müsse ihr wenigstens eine Chance geben zu versagen, sagte ich matt. Seitdem kann ich nur noch durch regelmäßiges, besorgtes Erkundigen meine Solidarität zeigen.

Was mich schließlich vom Thema fortführte, war ein Fund auf der Leserbriefseite der Zeitschrift Eltern. Ob es eine Selbsthilfegruppe von Eltern gebe, wurde gefragt, die Kinder mit dem Unkämmbare-Haare-Syndrom – Pili trianguli et canaliculi – haben. Das Foto eines lachenden Mädchens war abgedruckt, das wie die schwermähnige Jazz-Pianistin Carla Bley aussah. Auch in diesem Fall wusste ich nicht weiter. Anlass genug, mich nie wieder zu Haaren oder Frisuren zu äußern. DIETRICH ZUR NEDDEN