Propaganda kann so schön sein

■ Das NDR–ORchester leistete sich nicht nur den Solocellisten Truls Mörk, sondern auch das Borodin-Quartett als Beigabe

Jeder Komponist, der auf sich hält, hat ein quälendes Problem: Wie kriege ich meine Sinfonie zu Ende. Soll pompös-erhaben das bisherig gezeigte Konfliktfeld abgeschlossen werden, soll tiefe Erschütterung den Hörer ergreifen, soll er über vorangegangene Schwächen getäuscht werden, soll er mit verhaltenem Optimismus nach vorne blicken können oder mit fröhlich-kecken Klängen nach Hause komplimentiert werden.

Spätestens seit Beethoven gibt es das Problem. Sein Abschluss der 5. Sinfonie steht schon auf der Kippe zwischen optimistischer Bekräftigung und unfreiwilliger Karikatur. Bruckner gelang es selten, überzeugend zum Schluss zu kommen. Mahler wich oft aus. Und Tschaikowskis supergeile Abschlüsse verstimmen den sensiblen Hörer doch sehr. Auch Schostakowitsch, dem grandiosen sinfonischen Erzähler, gelang es mit hochpathetischem Getöse und immensem Materialaufwand bei empfindsamen Seelen aggressive Abwehrhaltung zu erzeugen.

Seine 5. Sinfonie, 1937 geschrieben als Existenzberechtigungsnachweis gegenüber Stalins Kulturbürokratie und das NKWD, die für ihn trotz unzweifelhafter Begabung in der sowjetischen Gesellschaft keinen Platz mehr sahen. Um sein Leben schreibend, verspielte er fast seine Stellung als bedeutendster musikalischer Chronist der gesellschaftliche Utopien, Verwerfungen und menschlichen Leiden im 20. Jahrhundert. Nach Stalins vernichtender Schelte in der Prawda „Chaos statt Musik“ musste seine Sinfonie für den sowjetischen Menschen das werden, was Beethovens 5. Sinfonie für das Bürgertum war: die Verheißung des Triumphs über die Mächte der Finsternis. Und so wurde Schostakowitsch vom kritischen, aber doch wohlwollenden Begleiter der russischen Revolution zum Propagandisten des real Existierenden. Beinahe, denn als Musiker verfügte er ausreichend über Mittel, seinem pompösen Hymnus auf die neue Zeit einen subversiven Subtext zu unterlegen. Der zweite Satz zitiert Mahlers „Antonius Fischpredigt“, die zeigt, dass auch intensiv vorgebrachte, scheinbar unwiderlegbare Argumente und Mahnungen auf absolut taube Ohren stoßen können. Stalins bedrohliche Gardinenpredigt, so mag die Botschaft sein, ändert mich nicht wirklich. Die 5. Sinfonie als Potemkinsche, als Dokument der Verstellung?

Wie das heute klingt, war am Freitagabend in der Glocke zu erleben. Christoph Eschenbach und das NDR-Sinfonieorchester, die zur Zeit mit einem ambitionierten Beethoven-Schostakowitsch-Projekt durch Europa touren, präsentierten die Sinfonie in einer eigentümlich berührenden Kombination mit Beethovens „russischem“ Streichquartett op. 53,3 und dem zweiten Cellokonzert von Schostakowitsch. Beethovens Quartett zeigt: hier hat sich einer gefunden. Form und Inhalt stimmmen. Das Zuhören stimmt frohgemut. Schostakowitschs Fünfte hingegen irritiert doch erheblich. Schostakowitsch spätes Cellokonzert hingegen gibt einen bitteren Kommentar ab zum Leben eines sowjetischen Künstlers, der von resignativer Grundstimmung ausgehend auf skurril -aggressive Weise die Propagandalügen der Fünften zurücknimmt.

Das Streichquartett und das Cellokonzert fanden eine überzeugende Wiedergabe. Wunderbar das Borodin-Ensemble, das Raum und Zeit mit einer teils ruhig fließenden, teils beherzt zupackenden Darbietung füllte. Sehr eindringlich danach das Spiel von Truls Mörk, dessen warmer, zuweilen schlank-zerbrechlicher Ton den Kontrast zwischen dem als Individuum sprechenden Cello und der „reale“ Welt des Orchesters überzeugend gestaltete. Aufmerksam begleitete Eschenbach mit dem NDR- Sinfonieorchester, grelle wie trübe, melancholische wie triviale Töne.

Bei der Fünften waren ein paar kleine Unsicherheiten im Orchester hörbar. Vielleicht hätte sie auch an den Beginn des Konzerts gehört. Aber Eschenbach wuchtete so intensiv, dass sie tatsächlich wie ein authentisches Meisterwerk wirkte.

Mario Nitsche

Am 7.5. in der Musikhalle Hamburg und in Live-Mitschnitt im NDR