Der zahnlose Tiger droht

Gerhard Mayer-Vorfelder verpasst die 100-Prozent-Hürde, sieht sich aber dennoch im Glauben bestärkt, einen starken DFB-Präsidenten abgeben zu dürfen: „Sie werden sehen, was ich sein werde“

aus Magdeburg ERIK EGGERS

Die Sowjetunion lebt. Die lustigen Rituale des Kremls waren jedenfalls noch ziemlich präsent in Magdeburg, wo der Deutsche Fußball-Bund – Hammer und Sichel sonst ganz unverdächtig – am Wochenende seinen 37. ordentlichen Bundestag abhielt. Die Chruschtschows, Breschnews und Andropows wären stolz auf ihre DFB-Apparatschiks gewesen: Bruderkuss, Umarmung und Beifalls-Stakkato – viel mehr hatten die roten Gerontosaurier damals auch nicht in ihrem Repertoire, einmal ausgenommen die große Parade zur Oktoberrevolution.

Immerhin: Genug Menschenmaterial mit eingebauter Wink- und Klatschautomatik wäre auch in Magdeburg vor Ort gewesen. Als Egidius Braun beim freitäglichen Festakt im Magdeburger Theater in das DFB-Ehrenpräsidentenamt verabschiedet wurde, erwies ihm die globale Fußballnomenklatur die letzte Ehre: Fifa-Chef Sepp Blatter war da, und Uefa-Boss Lennart Johansson, der brüderliche Freund. Und wie immer, wenn Kameras irgendwo lauern, war auch die Spezies der Politiker nicht fern; Ministerpräsident Höppner und der Magdeburger Oberbürgermeister sägten erfolgreich an den Nerven der Zuhörer, und auch Bundeskanzler Schröder drosch alle erdenklichen Phrasen, um etwas vom Glanz des deutschen Fußballs abzubekommen. „Löwen“-Chef Karl-Heinz Wildmoser war der Einzige, der sich gegen all diese Schleimereien wehrte; er griff zurück auf die altbewährte Taktik der sowjetischen Hinterbänkler und schlief einfach ein. Ob er wieder aufwachte, als die Ehrennadeln und Ehrenmitgliedschaften, die DFB-Variante des „Stalin-Ordens“ und der „Helden der Arbeit“, verliehen wurden, war leider nicht auszumachen. Abends jedenfalls ging es für die Herren Funktionäre ins „Maritim“. Dort feierten sie vor allem eins: sich selbst.

Samstagmorgen dann wurde ganz amtlich die deutsche Fußballzukunft beschlossen. Insgesamt 59 Anträge zu Satzungsänderungen lagen zur Abstimmung bereit; abgelehnt wurde keiner – auch hier hat der DFB bei der KPdSU offenbar gelernt. Und in der Tat war ja alles schon vorher klar: Dass der abgespaltete Ligaverband jetzt autonom agiert, die ehedem allmächtige Zentralgewalt DFB also in Zukunft vom Geldhahn des Profigeschäfts abgeschnitten sein wird. Nur eine Frage wurde – und das gegen jede Tradition der sozialistischen Geistesbrüder – tatsächlich diskutiert: Ein Dringlichkeitsantrag des Bayrischen Verbandes sah vor, dass alle Spiele der Vereine, bei denen ein Insolvenzverfahren eröffnet ist, aus der Wertung genommen werden, also auch die bisher gespielten. Die Mehrheit der 256 DFB-Delegierten stimmte dem zu, ein geradezu anarchistischer Akt des Ungehorsams. Fand auch DFB-Vize Theo Zwanziger, der die Abstimmung – nun wieder in allerbester ZK-Manier – wiederholen lassen wollte. Die meisten Anwesenden hätten gar nicht verstanden, um was es gegangen sei. Wussten die aber doch – und der Vorgang wurde nicht wiederholt. Das wiederum fand DFB-Vize Engelbert Nelle, und zwar ungeachtet des offenen Mikrofons, schlicht „Scheiße“.

Ein, wenn auch nur brauner, Farbtupfer im ansonsten mausgrauen Abstimmungsmarathon, den Sitzungsleiter Sengele so lyrisch eingeleitet hatte: „Wir werden den Arm noch oft zu heben haben.“ Zwischendrin, keiner wollte mehr, musste Sengele noch einmal den Ernst der Lage erläutern: „Ich kann Sie von diesen turnerischen Übungen nicht befreien. Es ist aus rechtlichen Gründen notwendig.“ Ach so. Zu diesem Zeitpunkt waren die Personalentscheidungen längst gefallen. Der wieder einmal grenzenlos selbstgefällige Gerhard Mayer-Vorfelder durfte sich und sein „Lebenswerk bestätigt“ sehen, als er bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung zum neuen DFB-Chef gekürt wurde. Mit gewohnt markigen Sprüchen begegnete er Kritik der Öffentlichkeit, die ihn als „zahnlosen Tiger“ tituliert hatte. „Sie werden sehen, was ich sein werde“, ließ er eine erste Drohung los. Logisch, dass er hinterher vermutete, die Gegenstimme sei nur deswegen zustande gekommen, weil sich der Delegierte in der Abstimmungspappe geirrt habe. Das hatte Günther Lommer, Schatzmeister des bayerischen Verbandes, freilich nicht. „Der DFB hätte ein ruhigeres Fahrwasser gebraucht“, begründete er seine Nein-Stimme.

Letztlich aber konnte MV sogar froh sein darüber, schließlich klingen 100 Prozent ja ein bisschen zu totalitär. Ein Ergebnis mit einer 99 vor dem Komma ist realistischer, respektive real existierender. Oder kann sich einer daran erinnern, dass ein sowjetischer Staats- und Parteichef je einmal alle Stimmen bekommen hat?