Schubkräfte der Verzweiflung

DAS SCHLAGLOCH
von KERSTIN DECKER

Wir gehen einer Zeit entgegen, in der die sozialen Fronten wieder mit antiker Härte aufeinandertreffen

Es war eine seltsame Woche. Sie begann mit Millionäre-Raten. Wie viele gibt es in Deutschland? fragte, wer die Zeitung zuerst gelesen hatte. Und die anderen offenbarten, was sonst jeder vor Mitwissern verbirgt: seine absolute, tiefste Orientierungslosigkeit. Jede geschätzte Zahl eine neue Blamage. Und dann waren es über eine Million. Genauer: eineinhalb Millionen Millionäre in Deutschland. Tendenz steigend.

Ganze Städte, größere und kleinere, voller Millionäre. Halb Mecklenburg-Vorpommern voller Millionäre. Das muss sie sein, die neue Mitte. So hatte Schröder das gemeint. Millionär, die neue mittige Existenzform. Schon klar, da stand auch was von Armen, die immer ärmer werden. Alarmierend!, riefen sofort einige Nicht-Millionäre. Umverteilen!, forderte gar die taz und entdeckte umgehend eine Pflicht zum Sozialneid. In diesem Punkt denkt sie ja nun doch etwas alt-mittig. Nein, dass die Armen immer ärmer werden, bedeutet, dass sie es nun einfach ein wenig weiter haben zur neuen Mitte. Sie haben jetzt also einen noch größeren Anreiz. Darum sagte unser Kanzler, dass es kein Recht auf Faulheit gäbe. Weil es nämlich nicht ohne weiteres ein Recht gibt, nicht Millionär zu werden.

Weil eine Mitte erst dann eine Mitte ist, wenn fast alle dazugehören. Walter Riester hat das sofort begriffen. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Millionärs-Nachricht reagierte er mit dem Vorschlag, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzulegen, um die Langzeitarbeitslosen besser ermutigen zu können. Also vom Arbeitslosenhilfeempfänger zum Total-Sozialfall (nichts soll mehr daran erinnern, dass da einmal eine Arbeit war im Leben), und dann, mit den Schubkräften der Verzweiflung umso kräftiger nach vorn in die Mitte. Aber das mit der Polizei war übertrieben. Eine große, ziemlich bunte Berliner Zeitung titelte schon vor Wochen „Faulenzer aufgepasst! Die Arbeitslosenpolizei sucht euch.“ Oder so ähnlich. Nein, Millionär sollte wirklich jeder freiwillig werden dürfen. Und dann meldete sich die CDU.

Die CDU ist die einzige Kraft im Staat, die weiß, wie schwer es ist, Millionär zu sein. Millionäre sind Menschen, die plötzlich ein paar Millionen zu viel haben. Genau wie die CDU. Und welcher Millionär weiß schon wirklich genau, woher die Millionen kommen. Die CDU hat erfahren, was die neue Mitte noch nicht mal ahnt. Millionärsein ist die eigentlich tragische Existenzform. Es gibt Autoren, die stört an der Gegenwart vor allem ihre Opferlosigkeit. Ihr untragischer Charakter. Sie haben die CDU übersehen. Um aber zu verhindern, dass es uns allen bald so geht wie der CDU, hat CDU/CSU-Fraktionschef Merz vorgeschlagen, die Sozialhilfesätze drastisch abzusenken und auch in Lebensmittelmarken oder überhaupt in Naturalien auszuzahlen. Für „Drückeberger“, sagt die CDU.

Böswillige Interpreten könnten das als Kränkung auslegen. Eine Gesellschaft, deren mittigste Mitte das Geld ist, setzt einige ihrer Mitglieder auf Naturalien. Das ist ein De-facto-Ausschluss aus der Gesellschaft. Das Symbolische daran ist die Kränkung. Aber es geht nicht anders. Mach mal einer aus Bananen Millionen! Nur Bananen schützen wirksam vor Millionen: Das ist die zeitgemäße Lesart der letzten Woche. Zeitgemäß ist das Entdramatisieren. Denn Dramatisierer sind anstrengend. Sie sind Fremdlinge in der Spaßkultur.

Trotzdem, es gibt auch eine unzeitgemäße Lesart. In einer einzigen Woche – also in beinahe gespenstischer zeitlicher Konzentration – verdichteten sich alle Anzeichen für etwas, was viele schon ahnten: Wir gehen einer Zeit entgegen, in der die sozialen Fronten wieder mit antiker Härte aufeinandertreffen werden. Man wusste es längst und glaubte es doch nicht wirklich, ungefähr so wie jeder weiß, dass er sterblich ist, aber wie sollte er weiterleben, würde er das auch glauben?

Sieger und Verlierer. Durch nichts mehr gemildert der Unterschied. Die Utopie der altbundesdeutschen Nachkriegsgeschichte war, diese Differenz zu verstecken, zu mildern, dass man sie beinahe vergaß. Vorbei. Frühere Zeitalter zettelten, wenn sie nicht mehr weiter wussten, im Allgemeinen Revolutionen an. Jedenfalls die letzten drei Jahrhunderte hatten eine gewisse Übung darin. Revolutionen sind Ausflüchte in die Realität. Aber Revolution geht jetzt nicht. Erstens sind Revolutionen in einer Spaßgesellschaft eine ausgemachte Albernheit. Und zweitens gibt es schon eine revolutionäre Kraft. Das ist die Wirtschaft selbst. Alles wird anders, und zwar täglich. Revolution ist der entschiedene Abbruch jeder Kontinuität. Die Wirtschaft macht vor, wie es geht. Und zwar unblutig. Noch eines haben beide Revolutionstypen gemeinsam. Revolutionen sind immer Barbareien. Schreiende Ungerechtigkeiten am Bestehenden, unwiderbringliche Verluste leicht in Kauf nehmend.

Gestern war der Tag der Arbeit. Ein Anachronismus. Jedenfalls in dem handfesten stolzen Mainelken-Sinn, den er mal hatte. Man müsste ihn zeitgemäß in Tag der Wirtschaft umbenennen. Und das innerste Movens dieser Wirtschaft ist die Abschaffung des Menschen in ihr. Also Tag der tendenziellen Abschaffung des Menschen. Klingt das jetzt wie linkes Kabarett? Das wäre ein völlig unerwünschter Eindruck. Weil linkes Kabarett suggeriert, dass es Lösungen gibt. Genau wie die Umverteiler. Dabei haben Friedrich Merz und die anderen ja irgendwo Recht. Bloß anders, als sie es meinen, abzüglich ihrer widerwärtigen Selbstgerechtigkeit und demagogischen „Drückeberger“-Rhetorik.

Dass die Armen immer ärmer werden, bedeutet, dass sie es nun ein wenig weiter haben zur neuen Mitte

Aber sind – manchmal geht es nicht ohne den kalten Blick – wohlhabende Sozialhilfeempfänger nicht wirklich eine Obszönität? Links sein, fortschrittlich sein, das hieß bis dato Teilnahme an einem gigantischen Erleichterungsprojekt. Links war Leichter-Machen. Und plötzlich sind wir so leicht geworden, dass wir uns kaum noch spüren. Auch der Arbeitslose soll sein Überflüssigsein nicht wirklich spüren müssen. Das steht hinter seiner relativen Wohlversorgtheit. – Und plötzlich wiegen wir nichts mehr. Leichtgewichte auf allen schöpferischen Gebieten sind wir ohnehin. Dies ist eine reproduktive Epoche, keine schaffende, die technisch-rechenhaften Zweige ausgenommen. Aber Inhalte produzieren wir nicht, Inhalte verbrauchen wir. Wir leben vom Bestand vergangener Epochen. Wir sind Verbraucher. Das ist unsere eigentliche Identität. Wir verbrauchen alles, die Vergangenheit, die Zukunft, die Welt. Darum ist es auch das kongeniale Amt der Zeit: Ministerin für Verbraucherschutz. Aber ist Verbraucher-Sein eine Identität? Ist Arbeitsloser, Sozialhilfeempfänger eine Identität? Wenn auf einem Grabstein der Name steht und dahinter Bäcker, General oder Fleischermeister, das mag seine Richtigkeit haben. Aber: Hier liegt Kuno Kunze, Verbraucher – ? Nein, Verbraucher ist keine Identität. Arbeitslosenhilfeempfänger ist auch keine Identität. Es sind andere Namen für Enteignungen.

Es sei denn, der Arbeitslosenhilfeempfänger könnte das wirklich: faul sein. Faul sein, ganz langsam werden, sich selbst genießen, und vielleicht seinen Nächsten – ohne Arbeit, ohne Anerkennung. Den Nachgeschmack vom Paradies nannte Friedrich Schlegel die Faulheit. Aber wer kann schon faul sein? Es ist ein ganz anderer Energiezustand, und wir neigen nun mal dazu, das Energieniveau unserer Umgebung anzunehmen. Was ist denn Arbeitslossein? Die Entstrukturierung des Tages. Nicht Ruhe für die meisten, sondern ruhiggestellte Ruhlosigkeit. Und die Kränkung, nicht aus eigener Kraft existieren zu können. Wen das nicht stört, wer wirklich faul sein könnte – man sollte ihn unter regierungsamtlichen Schutz stellen. Als Überlebenden seiner Zeit.