Israel sieht sich als bedrohtes Opfer

Sieben Monate Intifada haben die palästinensische Bevölkerung traumatisiert. In einer Bilanz wird auch beklagt, dass die israelische Öffentlichkeit irreführend informiert wird. Bislang sind 78 Israelis und 460 Palästinenser getötet worden

aus Jerusalem ANNE PONGER

„Die israelische Öffentlichkeit wird durch beständige offizielle Falschdarstellung von Tatsachen durch Politiker und Militärs in die Irre geführt.“ Das ist das palästinensische Resümee von sieben Monaten Intifada, die auf israelischer Seite – bei 78 Toten und 868 Verletzten – zu einer Verhärtung der öffentlichen Meinung geführt haben.

Die palästinensische Seite beklagt 460 Tote, mehr als 15.000 Verwundete, 2.800 zerstörte Gebäude, 1.100 Hektar verwüstetes Land mit 25.000 niedergewalzten Obst- und Olivenbäumen, sowie zahllose zerstörte Existenzen und traumatisierte Menschen. Bei einer Pressekonferenz in der Westuferstadt Ramallah analysierte der Arzt Mustafa Barghouti, Präsident der „Union medizinischer Hilfskomitees Palästinas“ die unausgewogene „Statistik des Leids“ und die Mythen israelischer Propaganda.

Die Unproportionalität der Gewalt speche Bände: Israels Armee, eine der fünf stärksten der Welt, setze Flugzeuge, Panzer, Raketen, Artillerie, Bulldozer und Scharfschützen zur Niederschlagung eines Aufstandes gegen die Besatzung ein. Sechs Mal so viele Palästinenser wie Israelis seien mittlerweile getötet worden, 88 Prozent davon Zivilisten. „Dennoch stellt Israel sich der Welt und in Selbstbeschau beständig als das existenziell bedrohte Opfer dar“, sagte Bargouti.

Selbst israelische Friedensaktivisten fielen darauf herein und zeigten sich von der palästinensischen Seite „enttäuscht“. Ihre Verbitterung entspringe dem Mythos, Barak habe den Palästinensern das großzügige Angebot von 95 Prozent besetzten Territoriums gemacht, das von Palästinenserchef Arafat zurückgewiesen worden sei. „Ein Blick auf die Landkarte beweist, dass weniger als 80 Prozent angeboten wurden. Allein das unter israelischer Kontrolle bleibende Jordantal sowie Siedlungen, Umgehungsstraßen und jüdische heilige Stätten hätten rund 20 Prozent des Westjordanlandes ausgemacht.“

Doch nicht nur an den Prozentzahlen seien die Gespräche gescheitert, meint Bargouti: „Durch israelische Kontrolle aller äußeren Grenzen und dem Fortbestand von Siedlungen hätte ein Palästinastaat die Qualität eines großen Gefängnisses bekommen, mit dutzenden voneinander abgetrennten Zellen, in denen die Gefangenen – wie in einem wirklichen Knast – gewisse Autonomie genießen.“ Die Intifada habe sich an der seit Oslo immer demütigender werdenden Besatzungspolitik entzündet, bei der Radikalisierung der Siedler, Brutalität von Soldaten und wirtschaftliche Not die entscheidende Rolle gespielt hätten.

Überdies würden israelische Existenzängste durch den Mythos geschürt, Arafat habe de facto die Rückkehr von fast vier Millionen Flüchtlingen ultimativ gefordert. „Im Zuge von Camp David war lediglich von deklarativer Anerkennung palästinensischen Rückkehrrechts und Mitverantwortung bei Vertreibung und Entschädigung die Rede“, betonte Barghouti. „Dazu gab es Lösungsansätze, die wegen Gesprächsabbruchs nicht mehr zum Tragen kamen.“