Freiheiten beim Sex im Hinterland

Freetriology, zweiter Teil: Too Much Flesh von Barr und Arnold  ■ Von Dirk Schneider

Es geht um Sex. Und die Geschichte ist simpel, hat aber, ebenso wie das Thema, auch ihre Abgründe. In einem winzigen amerikanischen Kaff inmitten endloser Maisfelder lebt der 35-jährige Lyle (Jean-Marc Barr) in freudloser Zweckehe mit seiner Frau Amy (Rosanna Arquette). Als Lyles Jugendfreund Vernon, inzwischen erfolgreicher Schriftsteller, zu Besuch kommt, bringt er die junge Französin Juliette (Elodie Bouchez) mit. Sie wird Lyle verführen und seine jahrelang aufgestaute Lust auf Sex kaum befriedigen können. Dass die beiden ihre Beziehung in der reaktionären Dorfgemeinschaft öffentlich machen, wird ihnen den Hass fast der gesamten Einwohnerschaft eintragen. Vernon ist seinem Freund allerdings nicht böse: Er ist schwul, das Mädchen seine Tarnung. Und das ist nur eines von vielen gut gehüteten Geheimnissen, die durch den Tabubruch ans Licht gebracht werden. Am Ende wird Lyle Opfer gemeinschaftlicher Selbstjustiz, unter Mithilfe des örtlichen Sheriffs.

Too Much Flesh ist der zweite Teil von Jean-Marc Barrs „Freetrilogy“. An den Themen „Love“, „Sex“ und „Spirit“ sinniert er darin über die Möglichkeit persönlicher Freiheit unter dem Banner westlicher Demokratie. Wie schon der erste Teil, Lovers, der letztes Jahr im Kino zu sehen war und unter dem Dogma-Siegel lief, ist auch die Geschichte vom Fleisch mit digitaler Handkamera gedreht. Zwei Fokusse richten Barr und Co-Regisseur Pascal Arnold auf ihren Gegenstand: Die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz sexueller Freizügigkeit und die filmische Erkundung körperlicher Attraktion und Berührung.

Der erste Aspekt wirkt zunächst erschreckend plump umgesetzt. Die Dorfbewohner leben miteinander in einer familiären Struktur, in der jeder die intimsten Geheimnisse des anderen kennt. Sie sind allesamt bibeltreu, erzreaktionär und völlig unaufgeklärt. So hatte Lyle seit 15 Jahren keinen Sex, weil man sich erzählt, sein Schwanz sei so groß, dass er jeder Frau unerträgliche Schmerzen zufügen würde. Er glaubt selbst daran, bis er Juliette trifft. Ob das hier gezeichnete Bild des amerikanischen Hinterlandes realistisch ist, sei dahingestellt. Allerdings hat Barr auf der Farm seiner Großeltern in Rankin, dem Drehort des Films, unzählige Sommer verbracht. Und während der Aufnahmen zum Film wurde in der Nähe ein Schwuler zu Tode geschleift. Rankin, so sagt Barr, sei repräsentativer für die USA als die Großstädte.

In der Beziehung zwischen Lyle und Juliette nun geht es nicht um Liebe, sondern um Sex. Dabei sind keine erigierten Penisse zu sehen, wie man es vielleicht von einem aktuellen französischen Film zu diesem Thema erwarten würde. Nicht einmal der Akt wird in Szene gesetzt, dafür gibt es jede Menge Vorspiel, Zwischenspiel und Danach. „Geht es darum, die Erektion außerhalb ihres pornografischen Feldes darzustellen oder geht es nicht vielmehr darum, die Wichtigkeit der Freiheit hervorzuheben, Lust zu verspüren und Lust zu schaffen?“, fragen die Regisseure. Too Much Flesh ist eindeutig ein Statement zu mehr Hedonismus. Die digitale Kamera soll dabei eine besondere Intimität zum Geschehen garantieren, die Freude am Sex unter Umgehung der gängigen Klischeebilder dargestellt werden. Der Film nimmt sich denn auch viel Zeit für die Schilderung der Komplexität gegenseitigen Begehrens. Handkamera und Verzicht auf künstliches Licht sind allerdings nicht unbedingt das beste Werkzeug, um Sinnlichkeit zu vermitteln. Die Bilder bleiben so nackt wie die Haut, die zu sehen ist, und die scheint stets ein wenig zu frieren.

Die Geschichte der Auflehnung gegen Puritanismus und Bigotterie ist dann doch spannender. Juliette wird noch dem jungen Bert zu seinem ersten Mal verhelfen, und wir können zusehen, wie ein ganzes Dorf in Aufruhr gerät angesichts dreier Menschen, die das vorleben, wovon alle heimlich träumen. Bevor die Hetzjagd auf Lyle losgeht, besuchen die drei zusammen mit Amy das große Thanksgiving-Fest. Um Lyle und Juliette herum leert sich langsam die Tanzfläche. Die beiden bewegen sich zur Musik auf das Unglaubliche, Unvermeidliche zu, während Amy dazu verbissen im Takt klatscht, als könne sie mit ihrer Solidaritätsbezeugung das Schlimmste noch abwenden.

Man muss sich zwar fragen, an wen der Film sich eigentlich richtet – Menschen, die unter Verhältnissen wie in Rankin leben, werden ihn wohl kaum zu sehen bekommen. Aber vielleicht haben wir es hier mit einem modernen Western zu tun, die genretypischen Merkmale von der weiten Landschaft bis zum Saloon bietet er fast alle. Jean-Marc Barr als einsamer Held des „More Joy of Sex“, seine Waffe: die pure Lust.

Filmstart Donnerstag, Kinos und Zeiten siehe Programm