DIE RADIKALEN LINKEN KULTIVIERTEN AM 1. MAI RITUALE STATT INHALTE
: Provinziell wie das Establishment

Die 1.-Mai-Demonstration der radikalen Linken in Berlin ist auf eine merkwürdige Art von der gesellschaftlichen Realität abgekoppelt: Sie kann zwar den Berliner Innensenator dazu animieren, in den bunten Bezirken der Hauptstadt zeitweise den Polizeistaat einzuführen; die Straßenschlachten zwischen feiernden Twens mit Bauchnabelpiercing und Polizisten aus der ganzen Republik fördern auch den Umsatz der örtlichen Gastronomie – aber damit endet die politische Wirkung auch schon.

Nicht nur der Innensenator hat mit seinem von Berliner Gerichten bestätigten Demoverbot die radikale Linke weiter marginalisiert. Ihr Nischendasein hat sie sich auch selbst zuzuschreiben, weil sie in den vergangenen Jahren das ziemlich hohle Ritual der angeblich sozialrevolutionären Straßenschlacht weiter gepflegt hat. Die Nazis dagegen marschieren ordentlich und erhalten dafür das gerichtliche Plazet. Straße frei für die Rechten – ein teilweise selbst verschuldeter Effekt, der linken Antifaschismus konterkariert. Seltsamerweise hat das Revolutionsritual kaum etwas mit der weltweiten Diskussion über die Grenzen der Globalisierung zu tun. Der Kampf gegen die Gentechnik-Konzerne, gegen die Patentierung der Erbinformationen von Menschen, Pflanzen und Tieren oder auch die Kritik am Freihandel – seit dem Aufstand von Seattle 1999 liegen diese Themen auf der Straße. Aber die revolutionäre Szene der Hauptstadt macht einen weiten Bogen um sie. Dabei könnte sie angesichts des Unwohlseins breiter Schichten der Bevölkerung gegenüber der Globalisierung mit diesen Themen die Menschen erreichen. Flugblätter in großen Auflagen, Plakate, Transparente, die an herrschende Stimmungen anknüpfen, suchte man jedoch vergebens. Daran muss es liegen, dass die mittlerweile auch in Deutschland aktiven Globalisierungsgegner keinen Kontakt zum 1. Mai der Linken finden.

Berlin ist ein Dorf – aber kein globales. Dieser Vorwurf trifft nicht nur das alte Establishment der Stadt. Auch gewisse Teile der Linken sind bisher keineswegs im 21. Jahrhundert angekommen.

HANNES KOCH