Das verrückte Kreuzberg

Alle Jahre wieder übernimmt der Stadtteil die heilende Narrenrolle. Gelassen und mit offener Sympathie ertragen die Bewohner den Ausnahmezustand

aus Berlin EBERHARD SEIDEL

„Eine Orgie der Gewalt“ – so heißt das Schauspiel, das alljährlich zum 1. Mai, pünktlich zur Tagesschau, in Berlin-Kreuzberg aufgeführt wird. Ein Spektakel, ein Volkstheater mit stundenlangen Straßenschlachten, brennenden Barrikaden und zahlreichen Verletzten. Dies ist es, was das Publikum erwartet, dies ist es, was es bekommt.

In den letzten Jahren hatte das Stück allerdings ein wenig an Anziehungskraft verloren. Zu routiniert waren die Darsteller, als dass der Funke noch wirklich hätte überspringen wollen. Es drohte die Absetzung wegen sinkender Einschaltquoten. Doch dank der engagierten Initiative des Festspieldirektors, des Berliner Innensenators Eckart Werthebach (CDU), gewann die Inszenierung an neuer Kraft. Mit seinem Versprechen „Das Spiel ist aus“ weckte er nicht nur das Interesse Hunderter von Rezensenten aus Funk und Fernsehen.

Neben den 9.000 Polizisten aus Oldenburg, Bonn, Wiesbaden, Freiburg, Potsdam und Berlin besetzten im Laufe des Tages mehrere zehntausend Berliner Bürger aller Länder in den Straßen Kreuzbergs die Ränge. Und viele beschäftigte die Frage: Wer verlässt als Punktsieger den Platz? Werthebach und seine Knappen, die ganz Deutschland so beschaulich wie Lüdenscheid wünschen? Oder wir, die Bunten, die Unzufriedenen, die Bedrückten? Die Frage ist auch nach Ende der Vorstellung nicht entschieden. Nur so viel steht fest: Die Inszenierung war von überdurchschnittlicher Qualität – der Steinhagel dicht, die Akteure jung, die Polizei irritiert, das Wetter gut.

Worum geht es in dem Kreuzberger Provinzstück? Was macht seinen internationalen Erfolg aus, dass selbst die Globalisierungsgegner in Seattle oder in Davos sich dieser Vorlage bedienen? Das sind so Fragen, auf die es keine, allenfalls viele Antworten gibt. Natürlich tauchen im Text recht häufig die Worte Protest und Kampf auf.

Aber gegen und für wen? Die einen fordern Freiheit für Frauen, die kaum jemand im Demonstrationszug kennt. Andere meinen, Deutschland soll sterben. Aber warum, wird nicht so recht klar. Auch die Aufforderung zum Hoch auf die internationale Solidarität wird eher mit einem peinlichen Grinsen als mit Begeisterung quittiert. Und dass Deutschlands Polizisten Mörder und Faschisten sein sollen? Nun ja, theatralische Überzeichnungen gehören eben dazu.

Dem Bühnenbild nach zu urteilen, handelt es sich um ein Historienspektakel aus den Achtzigerjahren – „Keine Macht für niemand“. Musik, Outfit, Parolen, Habitus: Alles stammt aus der Epoche, die dem Tod der sozialen Bewegungen vorausging. Nichts Neues unter Kreuzbergs Sonne. Nur die Handys, mit deren Hilfe man sich zur nächsten Attacke gegen die Polizei verabredet, erinnern an das Jetzt.

Was also ist der Sinn der Vorstellung? Ist alles nur Folklore, was sich da in Kreuzberg alljährlich so berechenbar und so pünktlich Bahn bricht? Ein vorschnelles Ja wäre so einfach und so falsch. Es nähme nichts ernst. Nicht den Lehrer, der alles hat – Geld, Status und Familie. Und der trotzdem auf die Bühne tritt, um mit leuchtenden, erwartungsvollen Augen an der Randale teilzunehmen. Nicht den türkischen Familienvater, der den Straßenkämpfern vom Fenster aus aufmunternd zuruft: „Ran, seid mutig, kämpft härter!“

Kreuzberg ist, man muss es deutlich sagen, verrückt. Wo sich alle am Talk der neuen Mitte über Modernisierung, Fortschritt und Aktienkurse ergötzen, spielt der Stadtteil die heilende Narrenrolle. Gelassen und mit offener Sympathie ertragen die Bewohner den Ausnahmezustand. Als wüssten sie, was die Menschen neben eine Demokratie des Konsenses und des scheinbar alternativlosen Pragmatismus noch so brauchen. Das ist der Sinn. Zumindest an diesem einen Tag muss einmal laut gesagt werden, was es neben Spaß, Schönheit und Reichtum noch so alles gibt: Armut, Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Kapitalismus. An diesem einen Tag muss gesagt werden, dass es vielleicht ein besseres Leben geben könnte als jenes, das man kaufen kann.

All diese Ahnungen mögen das Erfolgsrezept der Kreuzberger Aufführung sein. Und so vereint der Kreuzberger 1. Mai Menschen, die 365 Tage des Jahres recht verschiedene Wege gehen und nicht mehr in der Lage sind, eine gemeinsame Sprache zu finden. Der 1. Mai ist in Kreuzberg kein Kampftag der Arbeiterklasse, sondern der Tag der inneren Verständigung, dass das Ende der Geschichte noch nicht erreicht ist.