: Licht aus für Meister Lampe?
Überall in Europa das gleiche Bild: Seit Jahrzehnten sinkt die Zahl der Feldhasen vielerorts dramatisch. Forscher, Jäger und Naturschützer stehen vor einem Rätsel. Mit kriminalistischem Gespür aber kommen sie der Ursache Stück für Stück näher
von HERBERT OSTWALD
Tatort: Acker, Opfer: Hase. So viel ist klar. Unbekannt dagegen sind die Täter. Die üblichen Verdächtigen: Beutegreifer, Krankheitskeime, Chemikalien und Landwirte. Lepus europaeus scheint am Ende seines Lateins.
Rückblick: Noch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts kam der Anpassungskünstler mit extremen Umweltbedingungen gut zurecht. Ernteschocks, Kesseltreiben und Klimaschwankungen konnten der Art nie viel anhaben. Um so erstaunlicher, denn der Hase ist ein dauerhaft Obdachloser. Zeitlebens hockt das Tier anders als das verwandte Wildkaninchen ohne Behausung draußen, trotzt erfolgreich Wind, Regen und Temperaturschwankungen von 60 Grad.
Als ursprüngliche Steppentiere profitierten die Hasen von den Menschen. Großflächige Waldrodungen für den Ackerbau ebneten ihnen erfolgreich den Weg ins Feld. Noch in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts wurden allein in Deutschland drei Millionen Hasen geschossen. In der vergangenen Jagdsaison waren es nur noch 480.000.
Die Alarmglocken schrillten hierzulande spätestens Ostern 1998. Medienwirksam setzte damals das Bundesamt für Naturschutz das allseits beliebte Tier auf die Rote Liste bedrohter Arten. Und 2001 kürte ihn die Schutzgemeinschaft Deutsches Wild zum „Tier des Jahres“, um auf die weiterhin bedrohliche Situation des Feldhasen aufmerksam zu machen.
Vor allem in den ehemaligen Hasenhochburgen mit mehr als 50 Hasen pro Quadratkilometer nehmen die Bestände rapide ab, während sie in hasenarmen Gebieten stagnieren oder gar leicht zunehmen. Eine komplizierte Situation für die Hasenforscher, die der Aufklärung bedarf.
Doch lange Zeit wurde die heimische Tierart von vielen weitgehend vernachlässigt. Erstens, weil man einst glaubte, bereits viel über den volkstümlichen Mümmelmann zu wissen. Und zweitens, weil die Lebensweise des Feldhasen Forschern die Arbeit erschwert. Sein ganzes Wesen ist auf Tarnung ausgerichtet. Er duckt sich, ist wegen seines erdfarbenen Fells kaum zu entdecken und wenn doch, dann flitzt er auch schon mit 70 Sachen meilenweit davon. Ein ausgesprochen scheues Fluchttier, das panikartig mit dem Kopf durch die Wand will, sich leicht verletzt. Kein Zoo kann die sensiblen Hasen lange am Leben halten.
„Sie entziehen sich einfach der wissenschaftlichen Arbeit“, weiß Mirja Fassbender um die Schwierigkeiten. „Aber eine spannende Tierart erfordert eben ungewöhnlich aufwendige Maßnahmen.“ Die junge Forscherin vom Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin traf sich nun erstmals mit 60 weiteren Hasenexperten aus 16 europäischen Ländern zu einem Symposium in der fast hasenfreien Hauptstadt. In Zukunft will man gemeinsam Hasen retten. Eine Art internationale „Task Force“ puzzelt am Rätsel des Hasentods. Schweizer sezieren dafür Hasenleichen, Deutsche spionieren im Privatleben von Rammlern, Briten überwachen Häsinnen mit Sendern, und Österreicher sichern Kotspuren. In einem sind sich die Forscher weitgehend sicher: „Der Hasenniedergang hat etwas mit der Jungensterblichkeit zu tun.“
Bleibt die Frage, warum die Babys ins Gras beißen. Antworten darauf sucht Mirja Fassbender mit Hightech. Sie nutzt ein Abfallprodukt der Militärforschung um die gut getarnten Hasenkinder zu finden. Mit ihrer hochempfindlichen Wärmebildkamera zieht sie in eiskalten Frühlingsnächten über die stockfinsteren Felder. Auf dem kleinen Bildschirm leuchten die unbeweglichen Hasenbabys als rote Pünktchen im schwarzen Nichts. Theoretisch. Praktisch aber findet sie kaum ein Jungtier. Denn, so ihr Ergebnis, vom ersten Wurf der Häsinnen bleibt fast keiner übrig. Warum? Ist das Fruchtbarkeitssymbol durch Agrarchemikalien unfruchtbar geworden?
Dazu startete ein einzigartiges Projekt. Vier Jahre lang fingen Mitarbeiter der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Ökologie, Bodenordnung und Forsten zu verschiedenen Jahreszeiten Hasen ein. Kilometerlang wurden dazu Zäune weiträumig um einen ausgewählten Acker gespannt. Treiber scheuchten daraufhin die flüchtenden Tiere in die Netze.
Narkotisiert landeten so vierhundert lebendige Hasen auf dem Labortisch. Thomas Hildebrandt, vom IZW Berlin, untersuchte das Innenleben der gefangenen Häsinnen. Ein hochmodernes Ultraschallgerät produzierte erstklassige Details von den Embryos. Die dreidimensionalen Bilder lassen den Schluss zu: Die Hasendamen sind kerngesund, ebenso ihr Nachwuchs. Drei- bis viermal im Jahr werfen sie zwei bis drei Junge, im Schnitt etwa zehn pro Jahr.
Und auch die Rammler haben keine Probleme ihrem Ruf gerecht zu werden. Die untersuchten Spermien sind fidel. Wenn die Eltern fit und die Jungen gesund sind, warum überleben Letztere dann nicht die ersten zwei Wochen?
Für Heinrich Spittler von der Bonner Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadensverhütung ist der Fall klar. Er hat die Übeltäter bereits ausgemacht: Füchse, Marder, Greifvögel, Rabenkrähen und Elstern. Dieses „Raubwild“ hat in seinem Bestand in gleichem Maße zugenommen, wie die Hasen abnahmen. Füchse profitierten von der Tollwutbekämpfung, Greifvögel vom Jagdverbot. Nun sprechen die Statistiken für den Jagdkundler: Fuchs rauf, Hase runter. Schlussfolgerung: Zu viele Füchse. Spittler geizt nicht mit weiteren Indizien: In fuchsarmen Gebieten leben noch viele Hasen. „Den ersten Satz Junghasen holen sich die Feinde aus der Luft, die folgenden Würfe schnappt sich der Fuchs.“ Um seine These zu beweisen, sollen in zwei Versuchsrevieren in Zukunft „die Füchse kleingehalten“ werden. Erst wenn dann die Zahl der Hasen nicht wieder zunehme, wäre Spittler bereit, von seiner Theorie abzuweichen, sagt der Mann im grünen Lodenmantel. Basta!
Allein, es fehlt der handfeste Beweis für Spittlers Behauptungen. Zu aufwendig war es bisher, sich mit Wärmebildkameras nachts ins Feld zu stellen, eine größere Zahl von Junghasen zu überwachen und Reineke „in flagranti“ zu erwischen. Schweizer Veterinäre konnten dem Fuchs sogar ein Alibi verschaffen. Denn nach ihren Beobachtungen mit Infrarotkameras sagen sich Fuchs und Hase buchstäblich „Gute Nacht“. Sie gehen sich respektvoll aus dem Weg. An einen wehrhaften Althasen mit scharfen Krallen traut sich auch das kurzbeinige Raubtier nicht. Und im Magen obduzierter Füchse findet sich alles – nur selten aber ein Hasenbaby. Die meisten Hasenforscher wollen daher nicht an einen einzigen Bösewicht als Ursache für den europaweiten Hasenverlust glauben. Was aber ist es dann?
Echte Stallhasen als Versuchstiere könnten Licht ins Dunkel bringen. Am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien fühlt man sich in der glücklichen Lage, Hasenbabys untersuchen zu können. In den dortigen Zuchtställen leben 25 Hasenpaare, die regelmäßig Junge werfen.
Die Babys werden verschiedenen Temperaturen ausgesetzt und der Energieumsatz gemessen. Bei Minusgraden – wie im Februar und März auf dem kahlen Acker durchaus üblich – verbrauchen die voll ausgebildeten, aber kleinen Jungtiere viel mehr Energie, um ihren Körper warm zu halten. Sie sind daher auf energiereiche Nahrung angewiesen, die sie in den ersten Lebenswochen ausschließlich von ihrer Mutter erhalten.
Die Häsin geht von Natur aus auf Nummer Sicher. Damit die geruch- und bewegungslosen Jungen nicht durch sie an lauernde Füchse verraten werden, kehrt sie notwendigerweise nur einmal am Tag, in der abendlichen Dämmerung zu ihrem Nachwuchs zurück. Ganz kurz, nur wenige Minuten, säugt sie die hungrigen Jungen. Fetthaltige „Kondensmilch“ läuft aus den Zitzen. Häsinnen müssen daher auch fettreiche Nahrung zu sich nehmen. Aber genau die befindet sich in den Wildackerkräutern, die die modernen Landwirte aus wirtschaftlichen Gründen rigoros aus der Landschaft verbannt haben.
Kriegen die Hasenbabys aber nicht ausreichend Energie, so sind sie anfälliger für Krankheiten. Geschwächt haben sie keine Chance, Wind, Wetter und Feinden zu widerstehen. Schon kleinste Veränderungen in der Nahrungsqualität, so Klaus Hackländer vom Wiener Forschungsinstitut, können in der sensiblen Phase der Jungenaufzucht fatale Konsequenzen haben. Die Hasenkinder sterben dann unbemerkt draußen im Acker, der Zuwachs des Hasenvolks bleibt aus.
Die Kondition der Hasenmütter im Feld spielt also eine entscheidende Rolle für die Überlebensfähigkeit ihres Nachwuchses. Doch die Hasen kommen nicht zur Ruhe, müssen immer auf dem Sprung sein. In den dicht besiedelten Gebieten Mitteleuropas dringen „Outdoor“-Aktivisten wie Reiter, Biker, Jogger und deren Hunde in jeden Winkel des Hasenreviers vor. Mit Folgen. Es gibt bereits Hinweise, dass gestresste Häsinnen seltener trächtig werden.
Beweise dafür wollen die Wiener Forscher im Hasenkot finden. In den Exkrementen finden sich unter anderem Spuren von Stresshormonen, die einen Rückschluss auf die Situation im Acker zulassen. Im Kot lesen die Experten wie in Büchern, ohne einem einzigen Tier ein Haar krümmen zu müssen. Eine Methode, die bei sinkenden Hasenzahlen immer notwendiger erscheint. Einige Geheimnisse sind noch nicht gelüftet. Aber alles deutet daraufhin, dass viele beeinträchtigende Faktoren erst in ihrer Gesamtheit zum Hasenrückgang geführt haben könnten. Die Akte von Lepus europaeus jedenfalls wird immer dicker und kann mit Sicherheit noch nicht geschlossen werden.
Der Autor Herbert Ostwald ist Biologe und Filmemacher, zur Zeit arbeit er im Auftrag des WDR an einer Reportage über Feldhasen.
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