Hauptstadt als Hindernis

Bilanz des Landesbeauftragten für Behinderte: Berlins Neubauprojekte wie Holocaust-Mahnmal oder auch das Olympiastadion sind nicht genügend behindertengerecht geplant. Aktionstag heute

von ANTJE LANG-LENDORFF

Rund zwei Jahre nach der Verabschiedung des Landesgleichberechtigungsgesetzes zog gestern der Landesbeauftragte für Behinderte, Martin Marquard, zusammen mit dem Landesbeirat für Behinderte im Roten Rathaus eine erste Bilanz. Befürchteten die Behindertenverbände noch im Mai 1999, dass die von der großen Koalition beschlossene Regelung zu wenig einklagbare Rechte festschreibe und daher faktisch wirkungslos sei, zeigte sich Marquard inzwischen zufrieden mit den Bestimmungen. Von seinen Rechten als Landesbeauftragter für Behinderte macht er Gebrauch, indem er dem Abgeordnetenhaus in Kürze einen Bericht über die Behindertenfeindlichkeit der Hauptstadt vorlegen wird. Was dann tatsächlich gegen Hindernisse für behinderte Menschen in Berlin getan werde, müsse man abwarten, so Marquard.

Verstöße gegen das Gleichstellungsgesetz, mit dem das Land bisher Vorreiter ist in der gesamten Bundesrepublik und das unter anderem die Diskriminierung behinderter Menschen verbietet, stellt Marquard in den unterschiedlichsten Bereichen des öffentlichen Berliner Lebens fest. So haben beispielsweise Rollstuhlfahrer auch nach der Sanierung des Olympiastadions nur noch Zugang zu den Kurven hinter den Toren.

Auf eine weitere Diskriminierung stieß Marquard, selbst Rollstuhlfahrer, beim Holocaustmahnmal: Die derzeitige Planung der Gedenkstätte sieht eine Bodengestaltung mit Steigungen und Gefällen von bis zu 25 Prozent zwischen den Stelen vor – für Geh- und Sehbehinderte sowie Rollstuhlfahrer ein echtes Hindernis.

Auch der Sender Freies Berlin, der es ablehnt, die Abendschau in Gebärdensprache zu übersetzen, verstößt laut Marquard gegen das Gesetz, das die Sprache der Gehörlosen als gleichberechtigt anerkennt.

In den Schulen bemängelt der Landesbeauftragte für Behinderte, dass nicht alle aus der Grundschule kommenden Integrationskinder auch einen Integrationsplatz an der Oberschule bekommen. Den Anteil der Kinder, die stattdessen auf eine Sonderschule geschickt werden, schätzt er auf gut zwei Drittel. Ein neuer Schulgesetzentwurf sieht zudem vor, dass behinderte Kinder in eine Regelschule nicht aufgenommen werden dürfen, wenn „schutzwürdige Belange von nicht behinderten Kinder entgegenstehen“ – für Marquard eine Diskriminierung in höchstem Maße.

Zum „Europaweiten Protesttag der Menschen mit Behinderung zur Gleichstellung“ mobilisiert heute die „Aktion Grundgesetz“, eine Vereinigung von mehr als 100 Behindertenverbänden, in ganz Deutschland. Sie fordert, innerhalb dieses Jahres die im Grundgesetz zugesicherte Gleichstellung Behinderter in einem anwendbaren Gesetz zu verwirklichen. Auf dem Alexanderplatz richtet die Aktion neben einem Musik- und Kulturprogramm von Behinderten zwischen 11:30 und 14 Uhr einen Beichtstuhl für Politiker ein, die dort ihre sozialpolitischen Verfehlungen gestehen können.