Das leuchtende Dotwin-Mysterium

Seit einigen Wochen verwirrt die „Bild“-Zeitung ihre Leser mit einem gänzlich unverständlichen Gewinnspiel

Oft und oft auch zu Recht wird die Bild-Zeitung gelobt für die Gabe ihrer Mitarbeiter, auch komplizierteste Sachzusammenhänge derart simpel darzustellen, dass sie jeder begreifen kann. Seien es die Vergangenheit des Außenministers, die Gewaltbereitschaft des Umweltministers oder bisher verborgene Zusammenhänge zwischen Benzinpreis und Mordlust: Was vor der Bild-Lektüre noch unüberschaubar und vielschichtig schien, ist plötzlich so einfach.

Doch seit einigen Wochen arbeiten sich die Vereinfachungskünstler an einem Thema ab, das selbst ihnen zu hoch scheint. Besonders schwer verständlich ist dieses Unvermögen angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem hochkomplexen Thema um eines von Springer ohne jede Not selbst erfundenes handelt. Es geht dabei um etwas – und nur so viel kann man mit Sicherheit sagen –, das offenbar „Dotwin“ heißt, den Menschen Geld- und Sachgewinne bescheren soll und täglich von einer langbeinigen „Glücksfee“ namens Sonya Kraus beworben wird.

Wir ahnen, der (oder das?) Dotwin muss wohl auf einen Fernseher geklebt werden. Und klebt dann dort erst mal. Irgendwann läuft schließlich eine so genannte Dotwin-Sendung. Daraufhin muss der Dotwin „richtig belichtet“ werden. Jeden Tag stehen diese Mitteilungen halbseitig in der Bild, aber kein Mensch versteht sie. Jedenfalls kennt der Autor niemanden, der sie versteht. Es bedarf wohl der gemeinsamen vernetzten Bemühungen der Teilnehmer, um einen Gewinn einstreichen zu können. Der erste Dotwin-Hauptpreis ging an eine gewisse Carina: „100.000 Mark für Carina – ganze Familie half mit.“ Sie berichtet: „Mein Stiefvater hat den Bild-Dotwin vom Kiosk mitgebracht. Ich hab ihn aktiviert. Und meine Mama hat ihn dann zu Shell zurückgebracht.“

Diese Äußerungen wecken Unverständnis. Wie und warum wird ein Dotwin „aktiviert“? Was passiert bei seiner „Belichtung“? Wenn der Stiefvater den Dotwin „vom Kiosk mitgebracht“ hat, wie kann ihn dann die Mutter zu Shell „zurückbringen“? Der Dotwin war doch nie bei Shell? Fragen, die die Bild-Zeitung unbeantwortet lässt. Selbst Franz-Josef Wagner, der gemeinhin noch über den blankesten Unsinn Briefe zu spinnen vermag, hat den Dotwin bisher ignoriert.

„Mitmachen lohnt sich“, beharrt jedenfalls die „Dotwin-Glücksfee“ Sonya Kraus, die täglich mit einem riesenhaften Dotwin an den playmatesken Körper gedrückt in der Zeitung zu sehen ist. Doch ist Kraus nur schmückendes Beiwerk und ebenso ahnungslos ob der Spielregeln wie der gemeine Durchschnittsleser. Kraus beantwortet nicht einmal die Frage, warum nach dem fünfminütigen Punktleuchten in der linken oberen Ecke des Bildschirms ein rotes Männchen erscheint und selbst den künstlerischsten Spielfilm überleuchtet.

Wehmütig kommt hier die Erinnerung an die „Hobbythek“ auf, vor allem an ihr „Bildschirmgewinnspiel“. Einfach etwas Pergamentpapier vor die Mattscheibe kleben, dann mit einem Filzstift den sich bewegenden Punkt verfolgen – und schwupp: Das Bild ist fertig. Vielleicht ist das „Hobbythek“-Rätsel jedoch etwas zu einfach: Stets kommt eine Variation des Schnauzbarts von Jean Pütz heraus. Aber immerhin: Es ist wenigstens verständlich.

Vollends absurd wird das bildsche Dotwin-Brimborium angesichts der Tatsache, dass man auch ohne Dotwin an den Verlosungen teilnehmen kann. Man muss nur die „Dotwin-Sendungen“ ansehen und danach notieren, wie viele Dotwin-Symbole auf einer fünfzehn Sekunden eingeblendeten Tafel erscheinen . . . – äh – . . . ohne Aktivierung . . . die Zahl der Dotwin-Symbole entscheidet . . . kann dann auch bei Shell . . . Nein! Da spielen wir nicht mit! STEFAN KUZMANY