Am Anfang steht die Krise

Pierre Bourdieu fordert ein Bündnis von globalisierungskritischen Basisinitiativen, engagierten Wissenschaftlern und reformierten Gewerkschaften – kann es das geben?

Dabei muss der Beratungsprozess offen gestaltet und falscher Avantgardismus vermieden werden

Es stimmt schon, nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts sieht sich jeder linke Vorschlag zur Verbesserung der Lage unter verschärftem Argumentations- und Wirklichkeitsdruck. Ist er konsistent? Ist er praxistauglich? Sind die absehbaren Folgen bedacht? Ist alles vorgekaut, oder hat man Raum gelassen fürs Spontane und Elastiziät fürs nicht Vorhergesehene? Fragen dieser Art müssen sich auch Pierre Bourdieu und seine Freunde von der Gruppe „Raisons d’agir“ gefallen lassen, nachdem sie mit dem Projekt hervorgetreten sind, „eine europaweite und vereinte soziale Bewegung aufzubauen, die im Stande ist, die unterschiedlichsten, gegenwärtig noch gespaltenen Bewegungen sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene zu sammeln“ (taz, 11. 4. 2001).

Glücklicherweise ist Bourdieu kein Erweckungsprediger, sondern ein nüchtern argumentierender Soziologe – allerdings einer, der die Ideologie der Wertfreiheit durchschaut und seinen Berufsstand an die Notwendigkeit des Engagements erinnert. Bourdieu fordert dazu auf, gesellschaftliche Verhältnisse nicht als naturwüchsig anzusehen und Prozesse nicht als unumkehrbar. Angesichts der Folgen der Globalisierung will er ein Bündnis zwischen globalisierungskritischen Basisinitiativen, engagierten Wissenschaftlern und einer reformierten Gewerkschaftsbewegung. Und dieses Bündnis soll auch noch eine weltweite Initiative entfalten.

Auf den ersten Blick ein hoffnungslos irreales Unterfangen. Schon bei den Basisinitiativen, die sich von Seattle bis Prag medienwirksam zusammenfanden, zögert man, von irgendeiner Gemeinsamkeit zu sprechen – abgesehen von der unisono vorgebrachten Kritik an den internationalen Wirtschaftsagenturen. Erst recht fällt es schwer, einen Begriff wie „reformierte Gewerkschaftsbewegung“ ernst zu nehmen. Hierbei gilt die Skepsis nicht in erster Linie den Gewerkschaftsapparaten, sondern den durch sie Vertretenen. Wie viele der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen sind gleichzeitig Shareholder, und wie tief ist die Persönlichkeitsspaltung, die – wie es die Ökonomen Altvater und Mahnkop ausdrückten – aus dem „Widerspruch zwischen der Geldwirtschaft einerseits und der Arbeitsgesellschaft andererseits“ resultiert?

In diesem Zusammenhang ist es ein täuschender Ausweg, wenn man auf die Vielfalt der an dem zukünftigen Bourdieu’schen Bündnis beteiligten Gruppen verweist. Natürlich ist heute jede Bewegung, sei sie national oder international, nach Motiven und Wunschvorstellungen buntscheckig. Das folgt schon aus der Tatsache, dass das Lohnarbeitsverhältnis nicht mehr die gemeinsame Achse der Aktion bildet. Aber bislang war es Bedingung für den Erfolg jeder großen Protestbewegung, sich auf einen Kernbestand positiver Forderungen zu einigen.

Wie entsteht ein solcher Forderungskern? Durch einen Fusionsprozess, an dessen Anfang die Krise steht, Krise eines Projekts der Machteliten, Krise der Institutionen, die es managen. Ein erfolgreicher Fusionsprozess, der auf diese Krise antwortet, ging bisher stets von Einzelaktionen aus, die aber allgemeine Bedürfnisse zum Ausdruck brachten und von vornherein offen waren für Orts- wie Organisationsfremde. Vergleichen wir zwei scheinbar so disparate soziale Bewegungen wie die Streiks vom Sommer 1980 in Lublin und Danzig einerseits, die Bewegung gegen den Bau eines AKWs in Wyhl zu Anfang der 70er-Jahre andererseits, so sehen wir eine von Aktion zu Aktion sich selbst verstärkende, neue Milieus und Schichten ansteckende Protestbewegung. „Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg“, resümiert Maria Mies, Aktivistin der Antiglobalisierungsbewegung, den Siegeszug der „Globalisierung von unten“.

Danzig wie Wyhl demonstrieren aber gleichzeitig, dass der Protest zu positiven Forderungen führt. Im ersten Fall mündeten diese Forderungen in die Lizenzierung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność und die Vision der „selbst verwalteten Republik“. Im zweiten Fall in ein umfassendes Programm der ökologischen Reform und der europaweiten Gründung grüner Parteien. Dass beide Bewegungen scheiterten, besagt weder etwas über die Kraft des ursprünglichen Fusionsprozesses, noch beweist es, dass der Niedergang von Anfang an in das Projekt „eingeschrieben“ war.

Intellektuellengruppen innerhalb und außerhalb des Wissenschaftsbetriebs waren immer wichtig bei diesen Fusions- und Verallgemeinerungsprozessen. So im Fall der dem linkskatholischen Milieu entstammenden Beratergruppen der Solidarność, so im Fall der Naturwissenschaftler und Ökonomen, die im Kampf gegen die AKWs entweder mit der konventionellen Wissenschaft kontrastierende Gegeninstitute aufmachten oder, wie der Physiker Jens Scheer, ihre Begabung unmittelbar in den Dienst der Bürgerinitiativen stellten. Solche Absprünge von der herrschenden scientific community kann man organisieren, man kann Verständigungsarbeit im Vorfeld leisten, Kräfte zusammenführen, die kulturell und sozial durch eine Welt voneinander getrennt erscheinen. Genau dies hat „Raisons d’agir“ im Sinn.

Das geht nicht konfliktfrei. Wie soll man beipielsweise das Reformpotenzial in der europäischen Sozialdemokratie einschätzen, deren Hauptströmung sich mit dem „dritten Weg“ einer sanfteren, auf Konsens bedachten Variante des Neoliberalismus verschrieben hat? Bourdieu ist für Konfrontation, mancherorts, in Wien etwa, sieht man das anders. Also wird alles davon abhängen, den Beratungsprozess offen zu gestalten, falschen Avantgardismus zu vermeiden.

Die Bedingung für den Erfolg jeder großen Protestbewegung ist ein Kernbestand positiver Forderungen

Es war gerade Bourdieu, der schroffe kulturelle Abgrenzungen als Vorbedingung der Herrschaft untersucht hat. Jetzt widmet er sich der Abrissarbeit, und er kann sich dabei gerade auf die Krise der traditionellen Arbeiterorganisationen stützen. Gewerkschaften arbeiteten immer „vor Ort“, und kein ökonomischer Mechanismus wird den Blick der Mitglieder quasi automatisch auf demokratische oder ökologische Probleme lenken – von den Problemen der Weltgesellschaft ganz zu schweigen. Aber gerade die Organisation „vor Ort“, im Betrieb, ist in die Krise geraten. Nach wie vor gilt das Primat der betrieblichen Kämpfe, aber kein mentaler Zwang hindert künftige Gewerkschaftsaktivisten daran, stärker als bisher über die rissigen Mauern des nationalen Kapitalverhältnisses zu steigen.

Wie wir wissen, neigen Ideen dazu, sich vor Interessen zu blamieren. Aber wer sagt eigentlich, dass das Elend der Dritten Welt Vorbedingung für den Lebensstandard der Beschäftigten in den Industrieländern ist? Und dass diese niemals bereit wären, höhere Preise für Importe zu zahlen, wenn ausnahmsweise mal den Richtigen geholfen würde? Zeit für Beratungen, Zeit für Experimente, Zeit für Bourdieu!

CHRISTIAN SEMLER