Vase auf Stöckelpuschen

Wie ich einmal mit Hilfe meiner Mutter ein Unternehmen für Traumsequenzen gründete

Nobelpreisträger und Hollywood-Regisseure bettelten unter Tränen: „Mehr Träume . . .“

Eine einsame Katze schnurrte durch die dunkle Straße, als ich das Kino verließ. Schlagartig wusste ich, was ich seit langem in Filmen und Büchern vermisste: Traumsequenzen. Wo sind all die Spiralen, Strudel und Tunnel geblieben, die die Helden ins Dunkel ihrer Seele fallen ließen? Wo die wüsten Traumsymbole? Gierige Spinnen, die auf einen Mutterkonflikt hinwiesen, oder brennende Scheiterhaufen, die alles andere als eine häusliche Sicherheit symbolisierten.

Müde machte ich mich auf den Heimweg, als plötzlich Nebel aufwaberte und ich mich am Fuß einer gigantischen Wendeltreppe wiederfand, die ins Nichts führte. Die Stufen hinab stöckelte eine grüne Vase mit unendlich langen Beinen bis zu jener Öffnung, in die das Wasser gefüllt wurde. Ich schämte mich gleich doppelt. Dafür, dass mir der Name der Öffnung nicht einfiel, und dafür, dass meine Sexualsymbolik so traumhaft schlicht war. Jetzt fehlte nur noch, dass die bauchige Vase den Namen meiner Mutter trug. „Ich heiße Erika“, hauchte die Vase. Bingo! Sie ergriff meinen Ellenbogen und führte mich auf ihren High Heels tänzelnd zu einer Tür. „Ich begleite dich durch deinen Traum“, summte Erika und öffnete die schwarze Eichentür, hinter der ein langer Gang lag, der sich eilig zusammenzog, so dass die nächste Tür mit ausgestrecktem Arm zu öffnen war.

Durch ein eichengetäfeltes Büro wuselten fremde Menschen, die Papierstöße vor sich hertrugen und mich alle zu kennen schienen. „Hi, Mike“, grüßten sie mich. Zum ersten Mal im Leben wurde ich Mike genannt. Die Vase geleitete mich zu einem gigantischen Tisch, auf dem eine Hand umherkrabbelte. Ich wunderte mich kaum, als die Hand sich mir zuwandte und mich ansprach: „Hi, Mike, ich bin Claus, deine rechte Hand.“ Unwillkürlich sah ich an meinem Arm entlang. „Ich meine, dein Mädchen für alles“, lachte Claus, als er meinem Blick folgte. Sein Humor war zwar sehr eigenwillig, aber was will man von einer Hand auch erwarten.

Claus war zuständig für „feine Texte“, wie er mir erklärte. Zwar kannten mich alle im Raum, doch mussten sie mir andauernd beschreiben, was sie taten und ich zu tun hätte. „Schreiben“, knurrte Claus, „schreiben kann jeder, aber kürzen, das ist die Kunst.“ Wie zur Bestätigung kritzelte er den Satz „Jeder Text kann gekürzt werden“ auf einen weißen Bogen und strich dann mit einem Rotstift das erste Wort.

Erika bugsierte mich in einen schweren Ledersessel, von dem ich den Raum aus überblicken konnte. „Dein Reich“, flötete die Vase, und schon begann eine Rückblende, die mir mein bisheriges Traumleben vor Augen führte. Eine Rückblende in einem Traum – dramaturgisch äußerst gewagt, schoss es mir durch den Kopf. Claus, der offensichtlich Gedanken lesen konnte, stimmte mir zu und erläuterte dann die Szene, die ich vor meinem geistigen Auge sah: Es war der große Moment meines Gedankenblitzes. Läppische Literaten und Filmer langweilten die Leser und Zuschauer mit einfallslosen Wirklichkeitsbildern. Ich aber erkannte die Zeichen der Zeit und gründete ein Unternehmen für Traumsequenzen, das mit Hilfe von Claus und Erika aufblühte: Eine gelbe Rose öffnete ihre vom Tau benetzten Blätter, Sektgläser klirrten aneinander. Die ideenlosen Autoren aber standen vor meinem breiten Schreibtisch Schlange. Nobelpreisträger und Hollywood-Regisseure bettelten unter Tränen: „Mehr Träume, noch mehr Träume . . .“

Das dongelnde Telefon riss mich aus der Rückblende. Erika griff zum Hörer und reichte ihn mir weiter. „Hi, Mike“, eine rauchige Stimme kratzte sich in mein Ohr: „Scheiße, wir brauchen in der Scheiß-Szene mit Catherine Zeta-Jones noch mehr Scheiß-Kreuze im Morgengrauen. Und zwei Scheiß-Krähen – du weißt, wenn der Scheiß-Rollstuhl über die Scheiß-Jones hinwegrast. Wir holen damit den zweiten Scheiß-Oscar, alter Scheiß-Schwede.“ Zum ersten Mal in meinem Leben nannte mich jemand alter Scheiß-Schwede, und ich wusste, dass er es durfte, weil wir schon gemeinsam auf der Bühne des Shrine Auditoriums in Los Angeles gestanden hatten – mit dem Oscar in der Hand. Batterien von Scheinwerfern blendeten mich, als ich ihm, dem Produzenten, live im Fernsehen dankte, genau wie meiner rechten Hand Claus und meiner Mutter Erika, einer grünlichen Vase mit unendlich langen Beinen, der ich alles verdankte, weil sie mich auf Stöckelpuschen durchs Leben begleitete.

Zum Glück erwachte ich in dem Moment, als die hungrige Katze mitten in der Nacht vom Schrank auf das Bett und von dort auf meine volle Blase sprang. Ich werde mir nachts nie wieder Notizen machen, schwor ich und verbrannte mein gestern erst neu angelegtes Traumtagebuch in der Toilette, nachdem ich die Katze gefüttert hatte.

MICHAEL RINGEL