Der Zweck heiligt die Mittel

Die Münchner Bayern erriegeln sich auch gegen Bayer Leverkusen ein 1:0, das bezeichnenderweise nach einer Standardsituation kurz vor Schluss erzielt wird. Hitzfeld als Fan des Minimaxprinzips

aus Leverkusen ERIK EGGERS

Laut Arbeitswissenschaften der 20er-Jahre, die die ökonomische Rationalisierung der Weimarer Republik begleiteten, standen bei vielen Unternehmern genau jene Fähigkeiten hoch im Kurs, die Fußballtrainer heute noch von ihren Angestellten fordern: räumliches Sehvermögen, Flächensehschärfe, Bewegungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit, Augenmaß, Reaktion und Zeitauffassung. Das einzige Ziel: Steigerung der Produktivität. Ottmar Hitzfeld muss sich mit diesen komplizierten Dingen beschäftigt haben. Wenn nicht, dann verfügt der Bayern-Trainer über intuitive Kräfte. Schließlich durften Fußballtheoretiker und Betriebswirtschaftler das, was seine hoch bezahlten Angestellten am Samstag bei ihrem 1:0-Sieg in Leverkusen ablieferten, als einzigartige Lektion verbuchen.

„Mit Catenaccio kann man auch Meister werden“, hatte Hitzfeld bereits in Madrid gedroht. Und als wolle er diese fiese italienische Rhetorik mit allen Mitteln unterstreichen, orientierten sich auch in der BayArena neun noch unschuldig in Weiß gewandete Feldspieler von Anfang an dorthin, wo man einen Titelaspiranten eher selten vermutet: an den eigenen Sechzehner. Ein Riegel also vor die Vorstellung, in diesem Spitzenspiel könne es so etwas wie einen offenen Schlagabtausch geben.

Nur Ulf Kirsten hätte diesen einleiten können, als er nach einem schönen Ramelow-Pass (5.) frei stehend unten einschieben wollte. Doch wie in Madrid war es der überragende Torsteher Kahn, der das taktische Konzept der Bayern rettete; tatsächlich konnte sich die Abwehr nach dieser brenzligen Anfangsphase fangen: Nach zehn Minuten war der Mörtel endlich angezogen, die Mauer stand. Die defensiven Mittelfeldmaschinen – die Jeremies’, Effenbergs, Sagnols und Lizarazus – räumten nun alles ab, was ihnen entgegenkam. Die Leverkusener waren nicht imstande, ihre spielerischen Möglichkeiten auszuschöpfen.

Hitzfeld brauchte fortan jedenfalls nicht mehr nervös mit seinem Klappstuhl zu kippeln. Höchstens, wenn sich Carsten Jancker in die Leverkusener Hälfte verirrte. Sein Auftrag: Ecken und Freistöße provozieren, was ihm jedoch, der eigenen unterirdischen Form und der Zweikampfstärke seines Gegenspielers Lucio geschuldet, in den ersten 45 Minuten nicht ein einziges Mal gelang. Die Folge: Erst nach 34 Minuten musste man die erste Bayern-Chance notieren, als Linke – und zwar gegen seine ursprüngliche Verteidigungsmission – im Liegen noch einen Schuss Richtung Bayer-Gehäuse abdrücken konnte. Hitzfeld hinterher, wie zur Entschuldigung: „Wir wussten, dass die ausgeruhten Leverkusener hohes Tempo gehen würden. Sie haben uns permanent in die Defensive gedrängt. Wir hatten einfach nicht die Kraft, hier mitzuspielen.“

Das war freilich nur die halbe Wahrheit. Zur anderen Hälfte war die zur Schau gestellte Unlust der Bayern, den Ball nach vorne zu treiben, Teil eines perfiden Plans. Denn auf den Schönheitsfehler weiterer Leverkusener Möglichkeiten folgte auftragsgemäß in der zweiten Hälfte das, was sich der Betriebsleiter und Fan des Minimaxprinzips erhofft hatte: Standards. Oder, wie der Bayern-Coach es formulierte: „Unsere Philosophie ist die, dass wir trotz hohen Drucks über Konter und Standardsituationen ein Tor erzielen.“

Bereits in der 53. Minute hätte so das 1:0 für Bayern fallen müssen, als Kuffour nach einer Ecke einen Kopfball an die Latte setzte und der schläfrige Jancker daraufhin das tat, was er an diesem Nachmittag offenkundig zur Perfektion bringen wollte: den Ball verstolpern. Nur einmal konnte er das ihm ungehorsame Wesen erfolgreich weitergeben, und sofort sprang eine Chance heraus, als Roque Santa Cruz aus halblinker Position abziehen konnte. Es sollte, bezeichnend für die Spielanlage der Bayern, die einzige herausgespielte Chance bleiben.

Und doch war Roques Schuss ein Fanal; der Bayern-Betrieb war trotz Leverkusener Initiative auf Hochtouren gekommen. Als Santa Cruz sich in der 87. Minute und wiederum nach einer Ecke gegen drei Leverkusener durchsetzte, entsprangen Hitzfelds Lippen im befreienden Jubel die verräterischen Worte: „Ich hab es doch gesagt.“ Spätestens da war klar, dass ihm erneut ein Coup gelungen war. Er hatte die kompliziert zu führenden Angestellten einschwören können auf jene arbeitswichtigen Eigenschaften, die in Leverkusen für den Erfolg nötig waren: Burgmentalität, Destruktivität, minimaler Kraftaufwand, maximale Torquote. Kurz: ein Anschlag auf jegliche fußballerische Sozialromantik. Es darf jeder für sich entscheiden, ob er solch einen Meister will.

Bayer Leverkusen: Matysek - Kovac, Nowotny, Lucio, Placente - Reeb (61. Brdaric), Ballack, Ramelow, Ze Roberto - Neuville, KirstenFC Bayern München: Kahn - Kuffour (62. Salihamidzic), Andersson, Linke - Sagnol, Jeremies, Effenberg, Lizarazu, Sergio (23. Santa Cruz) - Zickler (62. Sforza), JanckerZuschauer: 22.000; Tor: 0:1 Santa Cruz (87.)