Das Reich der Pfeffersäcke

In Hamburg wird König Ortwin von Wichteln und einem netten Millionär ausgetrickst

Tatsächlich fand sich ein erklärter Menschenfreund mit beträchtlichen Reichtum

Noch nie hat das Reich der Pfeffersäcke einen sanfteren Herrscher gesehen als König Ortwin. Nie kommt ihm ein böses Wort oder gar ein Fluch über die blassen Lippen, die er stets unter einer Bürste aus Eigenhaar verbirgt, welches unter seiner kartoffelförmigen Trinkernase hervorsprießt.

Auch bringt es König Ortwin nicht über sein gutes Herz, die aufsässigen Wichtel zu vertreiben, die sich in einem kleinen, aber feinen Schlösschen inmitten des Pfeffersackreiches eingenistet haben und nun so manch groben Unfug treiben, der die braven Bürger erschreckt und die Pfeffersäcke erbost. Das Schlösschen aber heißt im Volksmund Flora, obgleich inmitten des wilden Treibens der Wichtel kein einzig zartes Pflänzlein gedeiht. Vor allem des Nachts rasen und toben die Wichtel und bieten, weil sie ein großes Herz haben, den schröcklichsten Halunken und Galgenstricken des Reiches Obdach, Wegelagerern, Opiumrauchern, Heroinisten und Hütchenspielern.

So geht das nunmehr zehn Lenze, weshalb es nicht Wunder nimmt, dass die braven Bürger sich über kurz oder lang fürchteten und die Pfeffersäcke König Ortwin drängten, die Schergen des Reiches loszuschicken, dem boshaften Treiben der Wichtel und Halunken ein Ende zu machen. Weil aber König Ortwin nicht nur gutmütig, sondern auch weise ist, blieb ihm die dunkle Absicht der Pfeffersäcke nicht verborgen, nämlich diejenige, sich das feine, kleine Schlösschen selbst unter den Nagel zu reißen. Denn wie es ihre Art ist, planen die geldgierigen Pfeffersäcke, anstatt des verwahrlosten Schlösschens allerlei Krämerläden, Spiel-, Schund- und Tandbuden und Waren- und Freudenhäuser zu bauen, um ihren ohnehin beträchtlichen Reichtum weiter zu mehren.

So hat der sanfte König Ortwin, dem weder die unbotmäßigen Wichtel noch die raffgierigen Pfeffersäcke ganz geheuer sind, unlängst einen weisen Entschluss gefasst: „Das Schlösschen soll derjenige ehrbare Kaufmann sein Eigen nennen dürfen, der sich nicht daran bereichert und die sonderbaren Wichtelwesen nicht vertreibt, sondern ihre seltsame Eigenart achtet und ihnen weiter gewährt, ihre Streiche zu spielen, insofern diese nicht dem Gesetz des Reiches widersprechen.“

Tatsächlich fand sich ein erklärter Menschenfreund, der nicht nur beträchtlichen Reichtum, sondern auch magische Kräfte sein Eigen nennt und sich rühmt, gewöhnliche Häuser in Orte der Kraft verwandeln zu können, und schlug vor, sich des Schlosses samt seiner unbotmäßigen Bewohner anzunehmen. Die Wichtel aber misstrauten dem Menschenfreund und seinen magischen Kräften, denn vertrauen mögen sie allein ihrer Freiheit, und so würdigten sie weder seine Menschenfreundlichkeit noch seinen Großmut, sondern verspotteten und verlachten ihren Wohltäter nur.

Wer nun glaubt, ihre Undankbarkeit sei den Wichteln gar schlecht bekommen, der irrt gewaltig. Der Menschenfreund ließ es sich nämlich, trotz aller Boshaftigkeit des Gesindes, nicht nehmen, das Schloss zu kaufen und im Nu in ein Kraftfeld zu verwandeln.

Das Schnauben und Toben der aufsässigen Wichtel erlahmte schnell, alsbald begannen sie zu hüpfen, zu springen, zu tanzen und zu singen, einigen wuchsen weiße Ballettschuhe an den zuvor noch ungewaschenen Füßen, anderen feingliedrige Gitarristen- und Pianistenfinger, und fortan ward das rotte Schloss zu einem Kraftort der Muse und der schönen Künste. Die Bürger, die Pfeffersäcke und ihre Schergen aber beißen seitdem vor Wut in ihre Silberlinge, bis diese sich in wertlose Blechmünzen verwandeln, die fortan Euro heißen.

JOACHIM FRISCH