Trügerische Ruhe

Der Krieg in Tschetschenien fordert täglich neue Opfer. Nachrichten über das Geschehen gibt es kaum. Nach wie vor ist Moskau nicht Herr der Lage

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Bei einer Präventivmaßnahme gegen tschetschenische Rebellen, die laut russischen Berichten Vergeltungsmaßnahmen in Grosny und Gudermes geplant hatten, kamen am Montag drei Soldaten russischer Spezialeinheiten ums Leben und neun Militärs erlitten schwere Verletzungen. Nach Angaben der russischen Kommandantur in Argun verlor der Gegner vier Mann, neun sollen gefangen genommen worden sein. Verluste der Zivilbevölkerung wurden unterschlagen. Ähnliche Ereignisse bestimmen seit Kriegsausbruch den Alltag in der Kaukausrepublik. Sie sind kaum noch eine Schlagzeile wert. Der Kreml hat ein Kriegsziel mithin erreicht: an der Nachrichtenfront herrscht die gewünschte Ruhe.

Ein trügerischer Eindruck, denn auch dreizehn Monate nach dem offiziellen Ende des Kriegszuges ist der Kreml nicht Herr der Lage. Mit der Armeeführung offensichtlich unzufrieden, hatte Präsident Wladimir Putin im Februar die Leitung der militärischen Operation dem Inlandsgeheimdienst (FSB) übertragen. Dessen Direktor, Nikolai Patruschew, hielt sich am Wochenende zu einer Kurzvisite in Tschetschenien auf. Was er zu sagen hatte, ließ aufhorchen: Die Voraussetzungen für eine sichere Arbeit der moskautreuen Regierung in der Hauptstadt Grosny seien nicht gegeben, sie werde daher bis auf weiteres in der zweitgrößten Stadt Gudermes bleiben. War das nicht das Eingeständnis einer Niederlage? Nachdem vor zwei Wochen die neue Verwaltung in Grosny mit Trommelwirbel eingeweiht worden war? Der Verdacht, mit dem Umzug wolle der Kreml vor allem den Eindruck schrittweiser Normalisierung vermitteln, bestätigte sich, als klar wurde, dass die Verwaltung ohne Mitarbeiter umgezogen war.

Wie im ersten Tschetschenienkrieg 1994 kontrollieren Moskaus Militärs die tschetschenischen Siedlungen auch jetzt nur tagsüber. Die Nacht beherrschen die Rebellen. Russlands Innenminister Boris Gryslow gestand das am Wochenende ein. Mit verstärkten nächtlichen Patrouillen will er den Freischärlern zu Leibe rücken. Ortskundigen Rebellen jagt der Innenminister damit sicher keinen Schrecken ein.

Im Gegenteil, Moskau zeigt erneut, dass es mit seinem Latein am Ende ist und ratlos vor dem selbstverschuldeten Scherbenhaufen steht. Inzwischen dürften sich für die Nachtpatrouillen noch weniger Freiwillige finden. Anfang Mai wurde die einheitliche Kampfzulage gestrichen. Nur wer an direkten Kampfhandlungen teilnimmt und das auch nachweisen kann, erhält pro Tag noch einen Zuschlag.

Die Iswestija berichtete, allein in der 42. Motorschützen-Division hätten ein Drittel (2.000 Mann) der erfahrenen Vertragssoldaten (Kontraktniki) ihre Entlassung eingereicht. Übernehmen statt der Kontraktniki unerfahrene Wehrdienstleistende die nächtlichen Himmelfahrtskommandos, haben die Rebellen noch leichteres Spiel.

Einiges deutet darauf hin. Denn an einen Truppenabzug, wie ihn Kremlchef Putin im Januar angekündigt hatte, denkt Moskau nicht mehr. Damals hatte Putin unmittelbar vor der Abstimmung des Europarates über die Rückgabe des vollen Stimmrechts an die russische Delegation versprochen, einen Großteil der Truppen aus Tschetschenien abzuziehen. Von der rund 80.000 Mann starken Streitmacht sollten nur 22.000 Soldaten – eine Armeedivision und eine Brigade des Innenministeriums – langfristig in Tschetschenien stationiert werden.

Auf einem Treffen der für Sicherheit zuständigen Minister in Essentuki, an der tschetschenischen Grenze in der vergangenen Woche, teilte Verteidigungsminister Sergej Iwanow kurz und bündig mit: 5.000 Mann haben Tschetschenien verlassen, keine weiteren Rückzugspläne.