Das wahre Geschlecht

Der Fall John: Judith Butler, Cheftheoretikerin der Gender Studies, sprach an der FU über „intersexuelle Allegorien“ und Indizien für den Zustand des Menschlichen

Im April 1966 unterläuft einem Arzt in einem Krankenhaus im kanadischen Winnipeg ein schwerer Fehler. Er soll bei John, einem acht Monate alten Säugling, die verengte Vorhaut weiten. Eigentlich ein reiner Routineeingriff. Doch der Arzt verwendet ein ihm nicht vertrautes Instrument und versengt den Penis des Patienten.

Der weitere Verlauf der Geschichte ist spektakulär; von Sexualforschern verschiedener Couleur wird das Kind als Beweis für ihre jeweiligenThesen benutzt. Auch der Theoretikerin Judith Butler lieferte der Fall den Anstoß für eine Reihe von Reflexionen, die sie am Dienstagnachmittag in dem Vortrag „Jemandem gerecht werden: intersexuelle Allegorien“ an der Freien Universität vorstellte. Wie schon bei Butlers Vortrag vor vier Jahren in der Staatsbibliothek drängte es das Publikum in Strömen zu der Veranstaltung – was nicht weiter erstaunlich ist, werden doch die Bücher der Rhetorikprofessorin aus Berkeley („Das Unbehagen der Geschlechter“, „Körper von Gewicht“, „Hass spricht“) weit über akademische Zirkel hinaus rezipiert.

Doch zurück zu John: Etwa ein Jahr nach der unglückseligen Operation lernen die Eltern den Sexualforscher John Money kennen. Money befasst sich an der renommierten John-Hopkins-Universität in Baltimore mit Inter- und Transsexualität und hängt der These an, dass die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen eine Frage von Erziehung sei. Er rät den verunsicherte Eltern, den Sohn mit Hilfe einer geschlechtsangleichenden Operation in eine Tochter zu verwandeln und dementsprechend zu erziehen. Die Eltern folgen dem Rat. Im Laufe seiner Kindheit wird John, der mittlerweile Joan heißt, immer wieder zu Money zitiert, der die Adaption der weiblichen Geschlechtsrolle peinlich genau überprüft. Joan muss Auskunft erteilen über ihre Gefühle, über bevorzugtes Spielzeug und spätere Heiratswünsche. Sie muss Money und anderen Ärzten ihre Geschlechtsorgane zeigen. Der Arzt geht sogar so weit, sie mit ihrem Zwillingsbruder Geschlechtsverkehr nachstellen zu lassen.

Joan verweigert sich einer endgültigen Operation – bis ihr schließlich der Vater sagt, dass sie nicht als Mädchen zur Welt gekommen ist. Sie unterzieht sich neuen Operationen, statt Östrogene bekommt sie jetzt männliche Hormone und wird zu John. Der Fall wird unter anderem von dem Endokrinologen Milton Diamond dokumentiert und wiederum als Beispiel dafür angeführt, dass es eine biologisch begründete Geschlechtszugehörigkeit gibt, die durch keine Sozialisation zu überlisten ist – die sich Bahn bricht, so sehr sie auch unterdrückt wird.

Dass sich Butler des Falls annimmt, liegt nahe – genauso wie die Versuchung, John zum schillernden Genderhasardeur zu stilisieren, der nur deswegen zum Mann werden will, weil er die herrschenden Geschlechternormen zu stark verinnerlicht hat. Doch darum geht es Butler nicht. Eher darum, die Prämissen, aufgrund derer die Sexualforscher Johns wahres Geschlecht bestimmen, in Frage zu stellen: Warum etwa ist es ein untrügliches Indiz für Johns Männlichkeit, dass er lieber mit Pistolen als mit Puppen spielt?

Butler zeichnet in ihrem Vortrag überzeugend nach, dass John, wenn er über sich und sein wahres Geschlecht spricht, dies nie unabhängig von medizinischen und psychologischen Diskursen tut. Zentral ist nun, dass John in diesen Selbstberichten auf etwas beharrt, was ihm die Sexualmedzinier absprechen: dass er unabhängig von der Beschaffenheit seiner Geschlechtsorgane geliebt würde.

Dieses Beharren, das seinen Grund nicht preisgibt (offensichtlich, so Butler, handele es sich „um einen Grund, der jenseits des Vernunftregimes liegt, das die Sexualwissenschaft selbst errichtet hat“), bildet den Kern der Argumentation – und bleibt doch eigentümlich unscharf. Und diese Unschärfe gerät zum Problem. Denn die Emphase, mit der Butler in John den „Zustand des Menschlichen, wie es sich an der Grenze dessen ausspricht, was wir zu wissen glauben“ erkennen will, ohne sich doch dem humanistischen Diskurs zu öffnen – diese Emphase erschließt sich letztlich nicht.

CRISTINA NORD