Vielleicht aus Treue, vielleicht aus Nostalgie

Die heute im polnischen Lodz beginnende Friedensfahrt hat sich von ihrem ideologischen Korsett befreit, ein Kult-Event aber ist sie geblieben

BERLIN taz ■ Wie so oft wird das Wort Kult bemüht. Die Magie eines Kult-Events richtet sich allerdings nicht immer an der Realität aus. Der Kult wirkt, wenn auf die Frage „Warum stehen da eigentlich so viele drauf?“ etwa so geantwortet wird: „Weiß auch nicht genau, früher war da mal was. Ich guck mir’s halt an.“ Vielleicht aus Treue, aus Nostalgie oder einfach, weil Unterhaltung versprochen wird. Die Organisatoren der 54. Friedensfahrt werden nicht müde, die heute im polnischen Lodz beginnende Rundfahrt durch Polen, Tschechien und Deutschland als ein Sportereignis zu verkaufen, das seinesgleichen sucht. Kokett wird mit dem recht vergilbten Etikett der „Tour de France des Ostens“ geworben, das allein dadurch ein neues Aussehen gewonnen haben soll, dass Tourchef Jean-Marie Leblanc nach Polen reist, um ein paar Eindrücke zu gewinnen von einem Rennen, das in der Normalität angekommen ist.

Im Kalten Krieg wurde sie in ein ideologisches Korsett gepresst, nun steht die Friedensfahrt nackt da – und sieht so übel dennoch gar nicht aus. Das Rennen passt sich als regionales Ereignis in den Terminplan der Radteams ein. Es dient zur Vorbereitung, zum Einrollen auf größere Events. Kleinere Mannschaften hoffen auf Profilierung, Spitzenteams wie Mapei, Coast oder Festina schicken lediglich Angestellte der zweiten Reihe. Mapei-Sprinter Tom Steels beispielsweise nutzt die zehn Etappen über 1.610 Kilometer, um nach einer Viruserkrankung langsam Form aufzubauen. Und Team Telekom greift gleich ganz auf den Nachwuchs zurück. „Wir bringen eine junge, aber ehrgeizige Mannschaft mit“, sagt Mario Kummer, Begleiter der radelnden Fernmelder. Steffen Wesemann und Andreas Klöden sind nicht dabei, dafür Bahn-Olympiasieger Robert Bartko und Ralf Grabsch. Telekoms Werbeträger strampeln derweil bei der Tour de Romandie oder trainieren im Süden. So können sie den Erwartungen entgehen, die ein Publikum hat, das jeden Tag die Live-Übertragungen des MDR verfolgt. „Wenn ich bei der Friedensfahrt antrete“, sagt Jan Ullrich, „erwarten die Fans von mir einen Spitzenplatz. Die Hoffnung kann ich nicht erfüllen, da ich mich auf die Tour de France vorbereite.“ Deshalb bevorzugt er andere Rennen, „wo ich nicht unter Druck stehe“. Doch auch ohne sein Kommen, glaubt Tour-Direktor Pawel Dolezel, sei die diesjährige Ausgabe „die bestbesetzte Fahrt aller Zeiten“.

Der Etat der Friedensfahrt ist mittlerweile bei vier Millionen angekommen. Auch die Einstufung des internationalen Verbands UCI verbessert sich von Jahr zu Jahr (in diesem von 2.4 auf 2.3). Und die Fans sind ohnehin treu. Heuer werden sie wieder zu tausenden an der „Steilen Wand von Meerane“ (elf Prozent Anstieg auf 340 Meter) stehen und glauben, es wäre die Anfahrt nach Alp d’Huez. Eine Rampe findet sich noch mit 18 Prozent auf der anspruchsvollsten Etappe im Erzgebirge. „Das wird die schwerste Friedensfahrt, die ich je gefahren bin“, sagt Thomas Liese vom Team Nürnberger. „Und die offenste. Es gibt keinen Favoriten, bei dem man sagen könnte: Der ist es.“

Die größten Chancen, in Potsdam das Gelbe Trikot des Gesamtbesten zu tragen, werden Vorjahressieger Piotr Wadecki aus Polen eingeräumt. Liese, der in medizinischen Leistungstests angeblich mit Ullrich konkurrieren kann, wird die Startnummer 57 tragen – für seinen Teamchef Uwe Raab ein nicht unwesentliches Detail. Die Nummern 55 bis 60 trug vor der Wende die Nationalmannschaft der DDR. „Bei uns sind ausschließlich Renner am Start, die sich mit der Friedensfahrt hundertprozentig identifizieren“, sagt Raab. Er zelebriert den Kult noch. Aber die alten Rituale sterben nach und nach aus. MARKUS VÖLKER