Grundgesetz erlaubt offene Diskussion

Das deutsche Verfassungsrecht lässt einen Wandel in der Embryonenpolitik nicht unbedingt scheitern

Die SPD hat ein strategisches Problem mit der Embryonenforschung. Einerseits will sie einen „offenen Dialog“ über die anstehenden Fragen – insbesondere die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die verbrauchende Forschung an Embryonen – führen. Zugleich schreibt SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin aber Papiere, wonach nur ihre (restriktive) Position verfassungsrechtlich zulässig sei. Kein Wunder, dass das SPD-Präsidium am Montag noch keine gemeinsame Position finden konnte. Von Forschungsministerin Edelgard Bulmahn und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (beide SPD) weiß man jedenfalls, dass sie eine politische Diskussion auch wirklich zulassen wollen.

Immerhin bieten Grundgesetz und Karlsruher Rechtsprechung durchaus einen Spielraum für Interpretationen. Vor allem zwei Fragen sind dabei von Belang: Wann beginnt das im Grundgesetz geschützte menschliche Leben? Und verbietet der grundrechtliche Lebensschutz jede Präimplantationsdiagnostik, jede Embryonenforschung?

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden Grundsatzurteilen zum Schwangerschaftsabbruch nur klargestellt, dass auch das „ungeborene Leben“ vom grundrechtlichen Schutz des Lebens und der Menschenwürde umfasst ist. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“. Es sei nicht entscheidend, „ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist“, hieß es ergänzend 1975. Und 1993 betonten die Karlsruher Richter, dass sich das Ungeborene „nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.“

Wann aber beginnt das Menschsein konkret? Das Embryonenschutzgesetz sagt unmissverständlich: „vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an“, wenn also männliche Samenzelle und weibliches Ei eins werden. Justizministerin Herta Däubler-Gmelin glaubt, dass diese Definition vom Gesetzgeber auch nicht geändert werden dürfte. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher aber ausdrücklich offen gelassen, wann der grundgesetzliche Schutz des ungeborenen Lebens einsetzt.

Beiläufig erwähnt das Gericht zwar, dass „Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie nahe legen“, die Verschmelzung als Lebensbeginn zu werten. Es musste sich aber nicht festlegen, weil es in seinen Urteilen bisher stets um die Zulässigkeit von Abtreibungen ging und die Schwangerschaft erst deutlich nach der Kernverschmelzung – mit Einnistung des Embryos in der weiblichen Gebärmutter – beginnt.

Die Karlsruher Zurückhaltung hat aber nicht nur prozessuale Gründe. Problematisch wäre eine Festlegung auf einen extrem frühen Lebensbeginn auch im Hinblick auf manche Methode der Empfängnisverhütung. So verhindert die Spirale wie auch die „Pille danach“ eine Einnistung der befruchteten Eizelle und tötet damit bereits menschliches Leben. Spätestens hier zeigt sich, wie fundamentalistisch Herta Däubler-Gmelins Position ist. Bisher sind diese Methoden jedenfalls ohne weiteres erlaubt.

Doch auch wenn der Lebensbeginn verfassungsrechtlich sehr früh verortet würde, wäre damit nicht jede Form der Embryonenforschung tabu. Das Verfassungsgericht räumt dem Gesetzgeber nämlich durchaus Spielraum ein, wie er den „Schutz des Lebens“ bewerkstelligen will.

So durfte der Bundestag zur Verhinderung von Abtreibungen auch auf ein Beratungskonzept setzen, das Abbrüche straflos lässt („Lebenschutz mit der Frau“). Ähnlich könnte auch bei der PID argumentiert werden, weil deutsche Paare bei einem rigiden Verbot sonst ins Ausland fahren. Und bei der Embryonenforschung könnte argumentiert werden, dass neue Heilmethoden möglicherweise auch Leben retten.

So fest gefügt, wie Däubler-Gmelin es darstellt, ist unsere Verfassungsordnung also doch nicht. Eine offene politische Diskussion wäre deshalb durchaus möglich – wenn sie gewollt ist.

CHRISTIAN RATH