Der Dammbruch ist gewollt

Die deutschen Fortpflanzungsmediziner fordern Zulassung und breitere Anwendung der Präimplantationsdiagnostik. Der Gen-Check von Reagenzglasembryonen soll nicht nur bei jährlich 50 bis 100 Paaren eingesetzt werden

„Wir sollten nicht den zweiten Schrittvor dem ersten machen.“

von WOLFGANG LÖHR

„Besser eine Taube auf der Hand, als eine Taube auf dem Dach.“ Mit diesem banalen Vergleich umschreibt die Medizinerin Ursula Auerswald den derzeitigen Diskussionsstand im Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) zum Thema Präimplantationsdiagnostik. Auerswald muss es wissen: Sie ist eine der beiden VizepräsidentInnen der Ärzteorganisation. Ende letzter Woche, auf einer Tagung des „Bundesverbandes Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands“ (BRZ) in Leipzig, gab sie kund, was von den Kritikern der umstrittenen Präimplantationsdiagnostik schon seit längerem vermutet worden ist: Die begrenzte Freigabe des umstrittenen Gen-Checks von Reagenzglasembryonen soll nur ein Anfang sein.

Eine genetische Überprüfung von künstlich befruchteter Eizellen soll auf Paare begrenzt werden, „für deren Nachkommen ein hohes Risiko für eine bekannte und schwerstwiegende, gentisch bedingte Erkrankung besteht“, heißt es in dem vom BÄK- Vorstand im vergangenen Jahr vorgelegten „Diskussionsentwurf zu einer Richtline zur Präimplantationsdiagnostik“. Das Papier geht im Unterschied zu einer Vielzahl von Politikern, wie zum Beispiel Justizmisterin Herta Däubler-Gmelin, oder der Enquetekommission des Bundestages „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ davon aus, dass die PID auch ohne Änderung des Embryonenschutzgesetzes derzeit schon rechtlich zulässig sei.

Befürchtungen, dass die Embryonenselektion dazu missbraucht werden könne, künftigen Eltern ein Wunschkind nach Maß zu liefern, wies der Vorstand der Bundesärztekammer zurück. Die genetische Untersuchung der Embryonen, bevor diese nach einer künstlichen Befruchtung in die Gebärmutter eingesetzt werden, solle nur in engen Grenzen möglich sein. Ethikkommissionen würden in jedem Fall einzeln entscheiden, ob die PID zulässig sei. Die Untersuchung werde zudem auf äußerst schwere Erbkrankheiten begrenzt, so dass überhaupt nur 50 bis 100 Paare jährlich in Deutschland für die Anwendung dieser Methode in Frage kämen.

Dass die vom BÄK-Vorstand eingesetzte Arbeitsgrupppe ursprünglich gar nicht die Absicht hatte, einen Diskussionsentwurf vorzulegen, sondern gleich Richtlinien für die Anwendung der PID verabschieden wollte, ist in den Medien inzwischen vielfach berichtet worden. Nicht bekannt war hingegen, dass innerhalb der BÄK auch heftig darüber gestritten wurde, ob die PID nicht für eine breitere Anwendung freigegeben werden solle.

Diese Forderung ist längst noch nicht vom Tisch. So hat der BRZ zusammen mit anderen Ärzteverbänden, unter anderem der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin jetzt ein Positionspaier veröffentlicht, in dem nicht nur die Zulassung der Gen-Untersuchung von künstlich befruchteten Embryonen gefordert wird. In einem künftigem Fortpflanzungsmedizingesetz müssten auch weitere „Optionen“ offengehalten werden.

Konkret werden in dem Papier Chromosomenuntersuchungen genannt. Damit kann zum Beispiel festgestellt werden, ob die Embryonen mit den normalerweise in jeder Zelle vorhandenen 46 Chromosomen ausgestattet sind. Sollte bei der Untersuchung eine irrreguläre Chromsomenausstattung entdeckt werden, zum Beispiel eine Trisomie – dass heißt eine einzelnes Chromsom ist dreifach vorhanden –, würde der Embryo nicht für den Transfer auf die Frau in Frage kommen.

Sollte es zu einer derartigen Ausweitung der Untersuchung von Reagenzglasembryonen kommen, würde die Zahl der in Frage kommenden Fälle gleich sprunghaft ansteigen. Denn mittlerweile sind eine Vielzahl von Trisomien beschrieben. Die bekannteste ist sicherlich die Trisomie 21, die auch als Down-Syndrom bezeichnet wird.

Heute schon muss jede schwangere Frau über 35 Jahre von ihrem Arzt darüber informiert werden, dass bei ihr ein erhöhtes Risiko für ein Kind mit Down-Syndrom besteht. Und dass es die Möglichkeit gebe, mittels einer Pränataldiagnostik Gewissheit zu erlangen, ob eine Trisomie 21 vorliegt. In den meisten Fällen entscheiden sich dann die Frauen für eine Abtreibung.

„Besser eine Taube auf der Hand,als eine Taubeauf dem Dach.“

Bei Schwangeren über 30 Jahre ist die Suche nach einer Trisomie 21 in den letzten Jahren schon schon fast zur Routine geworden. Eine ähnliche Entwicklung würde sich mit Sicherheit bei der künstlichen Befruchtung vollziehen.

Einige Trisomien verursachen beim Embryo so schwere Störungen, dass es zu einem Spontanabbruch der Schwangerschaft kommt. Die überwiegende Mehrzahl aller befruchteten Eizellen (60 bis 80 Prozent) ginge in Abhängigkeit vom elterlichen Alter verloren, berichtete auf der Leipziger Tagung Professor Karsten Held, der in Hamburg einePraxis für Humangenetik mitbetreibt. Studien spächen dafür, so Held, dass bei einigen Risikogruppen, bei älteren Frauen beispielsweise, die falsche Chromosomenausstattung für den Verlust der Eizellen verantwortlich seien. Dies zeige auch die unterschiedliche Erfolgsrate bei der künstlichen Befruchtung von jüngeren und älteren Frauen. Während bei jüngeren Frauen pro Embryotransfer die Schwangerschaftsrate nach Angaben von Held bei 27 Prozent liege, sind es bei älteren Frauen nur 13 Prozent erfolgreich.

Helds Schlussfolgerung: Nur mit einer Qualitätssicherung vor dem Embryotransfer kann die Erfolgsrate der künstlichen Befruchtung verbessert werden. Er hält es für einen Verstoß gegen den hippokratischen Eid, wenn der Frau ein nicht lebensfähiger Embryo übertragen werde: „Weil ein Spontanabbruch sowohl eine körperliche als auch eine seelische Gefährdung der Frau darstellt.“

Vor der BÄK kann Held für seine Forderung nach einer breiteren Zulassung der PID vorerst keine Unterstützung erwarten. Mehr als das, was wir erreichen konnten, sei nicht möglich gewesen, berichtete Vizepräsidentin Auerswald. Und der Lübecker Professor Klaus Diedrich, der an dem Diskussionentwurf mitgearbeitet hatte, meinte dazu: „Wir sollten nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen“.