Letten, Esten etc.

Das Baltikum, bestehend aus Estland, Lettland und Litauen, beruft sich neben seiner sumpf- und seenreichen Waldlandschaft oft auf seine vielseitige und mythologische Vergangenheit. So lassen sich die Spuren baltischer Kultur bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts erlitten Estland und Lettland Niederlagen im Kampf um ihr Territorium, die Bevölkerung wurde zu Leibeigenen von deutschen und dänischen Eroberern.

Die lettische Hauptstadt Riga, die in diesem Jahr übrigens ihren achthundertsten Geburtstag feiert, übernahm mit dem Eintritt in die Hanse 1282 die wichtigste Vermittlerrolle im West-Ost-Handel, 1285 zog die estnische Haupstadt Tallinn nach.

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte die baltische Bevölkerung ein Nationalbewusstsein, durch das 1918 die ersten eigenständigen Nationalräte entstanden, deren Hauptziel die staatliche Unabhängigkeit war. Zwei Jahre später gelang es, mit der Sowjetunion einen Friedensvertrag zu schließen, in dem die baltischen Länder als unabhängige Republiken anerkannt wurden. Sämtliche Verträge wurden jedoch durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 unterlaufen. Im Juni 1940 okkupierte die Rote Armee das Baltikum und deportierte tausende von Systemkritikern nach Sibirien. Ein Jahr später marschierte die deutsche Wehrmacht ein und vernichtete fast die gesamte jüdische Bevölkerung. 1944 wurden die baltischen Länder offiziell in die Sowjetunion eingegliedert.

Der Kampf um die erneute Unabhängigkeit begann 1988 durch die revolutionäre Volksfront, deren Bemühungen im August 1989 in einer sechshundert Kilometer langen Menschenkette gipfelte. Über eine Million Letten, Esten und Litauer fassten sich als Zeichen baltischer Zusammengehörigkeit an den Händen. Im Zuge der russischen Perestroika erklärte Litauen am 11. März 1990 die Wiederherstellung seiner unabhängigen Republik; erst am 20. August 1991 schloss sich Estland, einen Tag später auch Lettland an. Heute genießen alle drei Länder internationale Anerkennung durch die Aufnahme in die Vereinten Nationen und übernehmen seitdem die Aufgaben und Verpflichtungen demokratischer Staaten.

Lettland grenzt im Norden an Estland, im Osten an Russland und weiter südlich an Weißrussland. Seine Bevölkerung von 2,4 Millionen Menschen besteht bloß zu 55 Prozent aus Letten. Neben den Einheimischen haben sich 33 Prozent Russen, vier Prozent Weißrussen sowie drei Prozent Ukrainer niedergelassen, von denen jedoch im letzten Jahrzehnt viele Landsleute ausgewandert sind. Der kleinere Nachbar Estland hat mit 1,5 Millionen Einwohnern einen ähnlichen Ausländeranteil. Der Unwille über den russischen Einfluss auf die Landespolitik ist nach wie vor groß – so verabschiedete zum Beispiel das estnische Parlament 1993 ein Ausländergesetz, welches in Estland lebende Russen zu Ausländern erklärt.

Während nach außen offiziell das baltische Zusammengehörigkeitsgefühl beschworen wird, erschweren heute komplizierte Aus- und Einfuhrbestimmungen, Sondertarife und jede Menge verschiedener Vorschriften die bilateralen Beziehungen. Allein um sich über den Verlauf der Grenzen in den fischreichen Gewässern der Ostsee zu einigen, wurden zwei Jahre benötigt. Im Konkurrenzkampf um den Eintritt in die Europäische Union steht das wirtschaftsstärkere Estland an erster Stelle. Um die Nato-Beitritte baltischer Länder zu verhindern, hat Russland die Grenzabkommen Estlands und Lettlands bis jetzt nicht bestätigt.

SUE HERMENAU