Wandern auf Sekundenkleber

Über steile Grate und durch kühle Wälder durchquert der Fernwanderweg GR 20 die französische Mittelmeerinsel Korsika. Das Leben in den Bergdörfern ist so karg wie teils die Landschaft, und die Wanderin muss sich schon mal mit Notlösungen helfen

Die Bergwelt hat mich schon verzaubert, an ein Aufgeben ist nicht zu denkenErschöpft, aber berauscht mustere ich meine Schuhfetzen und kaputten Knie

von KATRIN EVERS

Frauen sollten nicht mehr als 12 Kilo tragen – stand im Reiseführer. Oder nicht mehr als 15 Prozent ihres Körpergewichtes, sagte mir ein Hüttenwirt. Ich habe 24 Kilogramm in meinem Rucksack, als ich voller Erwartungen losziehe – das sind 40 Prozent meines Körpergewichtes.

Zwei Tage halte ich durch, dann sehe ich ein, dass der GR 20 mit Zelt, Schlafsack, Isomatte, Kocher, Essen für zwei Wochen, drei Büchern, fünf Wanderkarten sowie Kleidung für jedes Wetter nicht zu schaffen ist. Da hatte ich schon windige Nächte unter einem schwindelerregenden Sternenhimmel verbracht. Hatte im Licht des abnehmenden Mondes Tee gekocht und das Zelt eingepackt, war schon vor Sonnenaufgang losgegangen. Steile, steinige Wände hoch, später durch das grelle Licht und die heiße Sonne. Ich war 1.850 Meter hoch und 850 Meter runter gestiegen, hatte ein erfrischendes Bad im grünblauen, eisigen Wasser des Spasimata hinter mir. Korsikas Bergwelt hat mich verzaubert, an ein Aufgeben ist nicht zu denken.

Ich stocke die Vorräte der Refuge de Carozzu auf und hinterlasse nachfolgenden Wanderern Bruce Chatwins Songlines. Mit großer Erleichterung auf dem Rücken, dafür aber der Frage im Kopf, wie ich wohl zu neuem Proviant kommen werde, laufe ich weiter, den Bergen, der Weite entgegen.

Auf 15 Etappen durchquert der GR 20 – der Grand Randonée – Korsika, das 20. Département Frankreichs. 180 Kilometer lang ist die Strecke von Calenzana im Nordwesten bis nach Conca im Südosten und geht 10.700 Meter hoch und 10.700 Meter wieder runter. Am Ende jeden Wandertages, mal nach vier, mal nach neun Stunden, bieten einfache Selbstversorgerhütten Schlafplätze, Kochstellen, meist eiskalte Duschen und gute Zeltmöglichkeiten. Von Mai bis Oktober sind Hüttenwirte dort, sammeln die Übernachtungsgebühr ein und verkaufen Schokolade, Kekse und Wein.

Kaum haben sich meine Knie von dem Gewicht der ersten Tage erholt, lösen sich die Sohlen von meinen Wanderschuhen. Ich treffe Xavier und Gérome, sie haben Sekundenkleber und leuchtend rotes Klebeband. Eitel sollte man auf dem GR 20 nicht sein. Zusammen machen wir uns auf den Weg zur nächsten Refuge. Und mit uns zwei Italiener, über die ich nichts erfahre, weil wir keine gemeinsame Sprache haben. Sowie das englische Pärchen, das abends die Kochstellen mit stundenlang vor sich hin köchelnden Ölsardinen-Reis-Currys blockiert, Manfred aus Bielefeld, der sich nach seinem Herzinfarkt vor zwei Jahren mal wieder so richtig fordern will, und Phillippe und Bertrand, die Geschwindigkeitsrekorde aufstellen wollen und schon zum Frühstück Spagetti essen.

Beginnt man den GR 20 im Norden, so hat man sofort die technisch schwierigsten Etappen vor sich. Am vierten Tag liegt der Cirque de la Solitude, der Kessel der Einsamkeit, vor uns. Mit seinem steilen Ab- und wieder Aufstieg, seinen mit Ketten und Seilen gesicherten Kletterpassagen gilt diese riesige Felsschüssel als Schlüsselstelle des GR 20. Die Nacht vor dem großen Tag ist warm und stürmisch. Mein im Wind knatterndes Zelt lässt mich kaum schlafen. Graue, regenschwere Wolken begleiten uns beim morgendlichen Aufbruch zum einsamen und imposanten Talkessel. Ein Weg hinab und irgendwo auf der anderen Seite wieder hinauf erscheint undenkbar, doch die vertraute rot-weiße Markierung führt sicher durch die Felswände, Ketten erleichtern das Abklettern und an Seilen kann ich mich und die immer noch an den Schultern zerrenden Kilogramm an den schwierigsten Stellen nach oben ziehen. Von oben erscheinen mir die anderen wie Ameisen, die sich durch die Wände bewegen.

Über glatte, steile Granitplatten und von ersten dicken Regentropfen begleitet geht es hinunter zu den Bergeries de Ballone, einer ehemaligen Schäferei. Es bleibt noch Zeit für die letzte Tüte Spagetti-in-Tomaten-Mozzarella-Soße, bis ein Gewitter losbricht und mich samt Zelt auf eine harte Probe stellt. Bäche schwillen zu reißenden Wasserfällen an, meine Isomatte schaukelt wie ein Wasserbett. Irgendwann bleibt nur die Flucht in die Hütte. Am Morgen strahlt die Sonne, das Zelt ist unversehrt.

1972 legte die korsische Verwaltung den GR 20 an. Er sollte dem wirtschaftlich schwachen Bergland Touristen und Geld bringen. Das ist gelungen: Der Höhenweg hat mittlerweile Kultstatus unter den europäischen Fernwanderwegen. 8.000 bis 10.000 Trekker folgen jährlich den rot-weißen Pinselstrichen durch die Felsen Korsikas. Die meisten im Juli und August. Dann sind die Hütten oft überfüllt. Ruhiger ist es im Mai und Juni, wenn in den Felsen noch Schnee und Eis liegt und Steigeisen und Eispickel zur Ausrüstung gehören. Weiter unten blüht und duftet um diese Zeit das undurchdringliche Gestrüpp der Macchie. Auch im September und Oktober sind weniger Wanderer unterwegs, die Birken sind gelb, die Buchen rot und orange und die Tage nicht mehr so heiß.

Über weite Teile führt der GR 20 durch einen Naturpark. Übernachtet werden darf nur in oder an den Hütten, Flora und Fauna sind streng geschützt. Häufig zu sehen sind grün schillernde Eidechsen, schwarz glänzende Kolkraben und der korsische Klappenkleiber. Steinadler und Bartgeier sind hoch oben kreisend zu erahnen.

Nur wenige Male kreuzt der Fra li monti, der Weg durch die Berge, Straßen. Dort erinnern schwarz übersprühte oder von Kugeln durchlöcherte Straßenschilder an den Kampf der FNLC, der Front National Liberté de la Corse, für ein von Frankreich unabhängiges Korsika. Und manchmal bringen kleine Bars mit korsischer Suppe, Ziegenkäse, Kastanienmehlkuchen und Wildschweinwurst Abwechslung in den vorwiegend aus Tütensuppen und Müsliriegeln bestehenden Speisen des Rucksacks.

Nach einem Ruhetag an der 1.600 Meter hoch gelegenen Refuge de Manganu verliere ich Gérome und Xavier, die Italiener, Manfred und das englische Pärchen aus den Augen. Nach neun Etappen ist das Bergdorf Vizzavona erreicht und der Nordteil des GR 20 geschafft. Mit mir fallen noch andere ausgehungerte Wanderer über den Kiosk her: endlich wieder Äpfel, Tomaten, Brot und Käse. Und in der Bar nebenan einen Café crème.

Ich nehme die Bahn und fahre an schroffen Felsen, vom Feuer geschwärzten und fast kahlen Abhängen entlang nach Corte. Jahr für Jahr brennen hunderte Quadratmeter Wald und Macchie auf Korsika nieder und oft ist die Ursache Brandstiftung: Was nicht Wald oder Gestrüpp ist, kann als Ackerland deklariert und von EU-Geldern subventioniert werden.

Corte, die heimliche Hauptstadt Korsikas, liegt umrahmt von der wilden Bergwelt mitten in der Insel. Ich stocke meinen Tütensuppenvorrat auf, suche vergeblich neue Wanderschuhe, muss stattdessen mit einer weiteren Tube Sekundenkleber vorlieb nehmen, schlafe eine Nacht im Hotel, vermisse mein Zelt und nehme am nächsten Morgen den ersten Zug zurück in die Berge.

Dort begegnet mir zunächst niemand mehr: Nur wenige machen sich nach dem spektakulären Norden noch auf, auch den Süden Korsikas zu erwandern. Außerdem kommt man von Vizzavona nicht nur nach Corte, sondern auch ans Meer. Doch auch der Süden ist voller Überraschungen und Korsika ist auch hier die Ile de la Beauté, die Insel der Schönheit. Der Pfad schlängelt sich über wenige Höhenunterschiede durch Buchen und Kastanienwälder, über ausgedehnte Weideflächen, entlang malerisch gelegener Schäfereien, von denen viele jedoch verlassen sind. An denen, die noch bewirtschaftet sind, gibt es Käse und manchmal auch eine Flasche Wein, aus den Gärten darf ich mir Radieschen und Salat mitnehmen.

Abends an der Hütte treffe ich Ina und André, die vor Jahren schon nach Korsika gezogen sind, in Cafés arbeiten und Bücher über die Insel und ihre Menschen schreiben. Strömender Regen und kräftige Gewitter zwingen uns zum Abstieg in ein Bergdorf, in dem die Zeiten von Asterix’ Besuch auf Korsika gar nicht so lange her zu sein scheinen. Nach zwei Tagen sind wir zurück auf dem GR und zusammen ziehen wir weiter auf den steiler werdenden Pfaden, dem Bavella-Massiv, den Dolomiten Korsikas, entgegen. Schon von weitem leuchtet das helle Gestein der schroffen Zinnen und windzersauste Laricio-Kiefern klammern sich an den Fels. Der 2.134 Meter hohe Monte Incudine bietet eine letzte grandiose Aussicht über die auslaufenden Bergketten.

Dann geht’s nur noch bergab, und auf einmal stehe ich auf dem Marktplatz von Conca, der GR 20 ist geschafft. Mit einem großen Salat und einem noch größeren Bier vor mir, mustere ich erschöpft, aber noch ganz berauscht meine Schuhfetzen und zerschundenen Knie. Als ich meinen Rucksack ein letztes Mal aufsetze und zur Bushaltestelle laufe, habe ich fast das Gefühl, zu fliegen: Endlich habe ich bestimmt nicht mehr als 12 Kilo zu tragen.