Verfassung gilt auch für Nazis

Erteilt das Grundgesetz rechtsextremen Kundgebungen eine generelle Absage? Karlsruhe sagt nein – und betont die rechtsstaatlichen Garantien für rechte Demos

FREIBURG taz ■ Das Bundesverfassungsgericht bleibt bei seiner liberalen Linie. Auch künftig will es rechtsextreme Demonstrationen ermöglichen, wenn die gesetzlichen Bedingungen erfüllt sind. In zwei gestern bekannt gemachten Beschlüssen erläuterte Karlsruhe, warum es am 1. Mai NPD-Kundgebungen in Essen und Augsburg zugelassen hat.

Zugleich wurde der Vorstoß des offen gegen Karlsruhe rebellierenden Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster zurückgewiesen. Die OVG-Richter sind der Ansicht, dass sich Rechtsextremisten in Deutschland überhaupt nicht auf das Versammlungsrecht berufen können.

Die neue Aufsässigkeit der Gerichte hat Karlsruhe wohl selbst ausgelöst. Anfang des Jahres bestätigte es die Verschiebung einer Kundgebung des Hamburger Nazi-Aktivisten Christian Worch. Zur Begründung hieß es damals, dass eine rechte Demonstration am Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar, als „Provokation“ bewertet werden dürfe.

Viele Behörden und Gerichte sahen darin ein Signal des Verfassungsgerichts für einen härteren Kurs. Demonstrationsverbote wurden nun – wann immer es möglich war – mit dem Charakter von Feier- und Gedenktagen begründet. „Ostern wird als Fest der Hoffnung, des Lebens, des Friedens und der Versöhnung gefeiert“, hieß es etwa in einer Verbotsentscheidung des OVG Münster vom 12. April, „mit diesem Charakter des Osterfestes ist in einer christlichen Gesellschaft die Durchführung einer Versammlung mit erkennbar neonazistischem Gepräge unvereinbar.“

Doch so wollte Karlsruhe auch nicht verstanden werden. Auf das Osterfest lasse sich die Entscheidung zum Holocaust-Gedenktag nicht übertragen, betonten die obersten Richter.

Die Münsteraner Richter gingen jedoch noch weiter. „Nicht nur an Tagen mit gewichtiger Symbolkraft, sondern an jedem Tag des Jahres“ würden durch das öffentliche Auftreten von Neonazis „grundlegende soziale und ethische Anschauungen einer Vielzahl von Menschen – zumal der in Deutschland lebenden ausländischen und jüdischen Mitbürger“ in erheblicher Weise verletzt. So argumentierte das OVG am 12. April und erklärte die liberale Karlsruher Sichtweise für „problematisch“.

Am 30. April legten die Münsteraner Richter anlässlich der Essener NPD-Demo noch nach: Das Grundgesetz habe Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit aus historischen Gründen „eine klare Absage erteilt“, hieß es jetzt. Das öffentliche Eintreten für NS-Gedankengut dürfe daher nicht als „Ausübung eines Freiheitsrechts“ eingestuft werden. Das OVG berief sich dabei auch auf die von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat gestellten Anträge auf ein NPD-Verbot.

Erneut und diesmal in aller Deutlichkeit hat Karlsruhe diese Sichtweise jetzt zurückgewiesen. Das Grundgesetz dokumentiere seine Absage an den Nationalsozialismus gerade „auch im Aufbau allgemeiner rechtsstaatlicher Sicherungen“, deren Fehlen das NS-Regime mitgeprägt habe. Zu diesen rechtsstaatlichen Garantien, so hieß es gestern, gehöre auch die Versammlungsfreiheit für „Minderheiten“. Im Übrigen verkenne das OVG Münster, dass laut Grundgesetz nur das Bundesverfassungsgericht über das Verbot einer Partei entscheiden kann. Es sei „ausgeschlossen“, die Grundrechtsausübung einer Partei deshalb zu unterbinden, weil ein Verbotsverfahren in Karlsruhe anhängig sei.

In einem zweiten gestern bekannt gemachten Beschluss befasste sich das Verfassungsgericht mit der NPD-Maidemonstration in Augsburg. Sie war ebenfalls verboten worden, allerdings hatte sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dabei nicht explizit gegen die Karlsruher Rechtsprechung gewandt. Das bayerische Gericht hatte vielmehr „Gewalttätigkeiten“ befürchtet, weil sich die Partei bei der Vorbereitung der Demonstration nicht „kooperativ“ gezeigt habe. Karlsruhe stellte nun fest – und das ist auch für linke Demonstrationen wichtig –, dass es keine Pflicht von Demo-Veranstaltern gibt, ein „Sicherheitskonzept“ vorzulegen.

CHRISTIAN RATH