Die zwei Bayern-Gesichter

Beim tabellenführungserringenden 2:1 der Münchner gegen den 1. FC Kaiserslautern schrumpft die gesamte Bundesligasaison am Ende auf ein paar so läppische wie dramatische Sekunden zusammen

aus München CLAUDIO CATUOGNO

So verspielt man also eine Meisterschaft – dachte man wenigstens zu Beginn dieser Partie, an deren Ende der FC Bayern München dem Titel plötzlich ganz nahe war. Die weißen Federwölkchen hingen regungslos am Himmel, als habe sie jemand dort hingepinnt wie an eine Theaterkulisse, und auf der grünen Sommerwiese schlug Stefan Effenberg gerade seinen vierten Pass ins Nichts. Das Zeltdach des Olympiastadions funkelte in der Sonne, auf der Tribüne strahlte ein frisch gebräunter Ministerpräsident, und auf dem Rasen trotteten ein paar Spieler herum, blinzelten in diesen Sommertag, und ganz nebenbei lagen sie gegen Kaiserslautern 0:1 zurück. Man wartete nur noch auf eine Nachricht von der Anzeigetafel, bingbong, Schalke führt gegen Stuttgart, servus FC Bayern, hat halt nicht sollen sein.

Doch die Nachricht blieb aus, und auf das historische Spiel gegen Real Madrid folgte plötzlich ein historischer Nachmittag im Münchner Olympiastadion. Ein Nachmittag, über den alle bald nur noch anhand von Sekundenangaben sprechen sollten. Denn um 17 Uhr 16, sieben Sekunden nach dem Stuttgarter Siegtor gegen Schalke, außerdem 43 Sekunden nach seiner Einwechslung (oder 55 oder 67, da waren zwar alle exakt, jedoch uneins), und jedenfalls 90 Sekunden vor dem Abpfiff, hämmerte Alexander Zickler den Ball zum 2:1-Siegtreffer für die Bayern ins Tor. Sekundenangaben sind ein gutes Transportmittel für Superlative im Titelkampf. Dabei läuft die Saison schon seit dem 12. August 2000.

Eine Saison, die, würde man sie zu einem Buch binden, den Titel „Die zwei Gesichter der Bayern“ verdient hätte: Verloren gegen Cottbus, Stuttgart, Frankfurt, Rostock und Unterhaching. Beim 1. FC Magdeburg aus dem DFB-Pokal ausgeschieden – aber Real Madrid zweimal besiegt, zweimal Manchester United, und Uli Hoeneß zu der Aussage genötigt, man sei „die vielleicht beste Mannschaft der Welt“.

An diesem Samstag schrumpfte diese Saison zusammen in ein einziges Bundesligaspiel. Mal wurden die Bayern vorgeführt wie Schuljungen, etwa als Bixente Lizarazu und Effenberg den Lauterer Harry Koch flanken ließen, Thomas Linke zu weit weg vom köpfelnden Vratislav Lokvenc stand, und Oliver Kahn zwar in hohem Bogen, so als wolle er ein Rad schlagen, aber letztlich erfolglos in die linke Torecke sprang. 0:1 in der 5. Minute. Doch dann erzielte Carsten Jancker das 1:1 durch eine Kopie des Figo-Tores vom vergangenen Mittwoch (56.).

Mal sammelten Effenberg und Ciriaco Sforza eifrig Punkte für den internen Wettbewerb „Wer schlägt den durchsichtigsten Pass?“ (Unentschieden auf hohem Niveau). Dann wieder, Mitte der zweiten Halbzeit, schossen Jancker (58., 59., 60., 65.) und Roque Santa Cruz (61.) praktisch durchgehend auf das Lauterer Tor (wenn auch vorerst ohne weiteren Erfolg).

Mal dachte man also, die Saison könnte den Bayern hier aus der Hand gleiten. Ganz nebenbei, so wie ein paar Meter weiter auf den Olympia-Wiesen die Studenten bei ihrem Samstags-Kick mal gewinnen und mal verlieren, aber das Wichtigste sind die Sonne und die Zuschauerinnen im Bikini. Doch dann verdichtete sich wieder alles auf das Ziel, diese Schale zu gewinnen, die Besten zu sein, trotz durchwachsener Saison. Uli Hoeneß tanzte nach dem Abpfiff minutenlang auf der Tartanbahn wie Balu der Bär im „Dschungelbuch“. Giovane Elber ließ sich als erstes zwecks Küsschen Sohn Victor Antonio von der Tribüne herunterreichen, um dann mit dem verdutzten Jungen vor den Fernsehkameras in die Katakomben des Stadions zu flüchten.

Dann wurden die Fußball-Weltbürger schnell wieder zu Diplomaten. Hoeneß murmelte in dem ihm eigenen spitzmündigen Analyseton: „Wenn wir es schaffen, haben wir es verdient, wenn nicht, gratulieren wir Schalke.“ Trainer Ottmar Hitzfeld philosophierte über den Titelkampf als „Drehbuch, das kein Regisseur professioneller gestalten“ könne. Und Torschütze Zickler sagte: „Letzte Saison hatten wir einen verrückten letzten Spieltag, dieses Jahr einen verrückten vorletzten.“ Und nun, da Schalke zum Finale gegen Unterhaching antrete, hoffe er, dass der HSV nicht zum Unterhaching der Bayern werde, so wie Unterhaching letztes Jahr zum Unterhaching für Leverkusen wurde. Erst ausflippen und dann solch analytische Dinge sagen – auch so zwei Gesichter der Bayern.

Bayern München: Kahn - Kuffour, Andersson, Linke - Salihamidzic (88. Zickler), Sforza, Effenberg, Hargreaves (85. Sagnol), Lizarazu - Jancker, Santa Cruz (67. Elber) 1. FC Kaiserslautern: Georg Koch - Harry Koch, Komljenovic, Schjönberg - Buck (70. Pettersson), Ramzy, Lokvenc, Grammozis, Strasser (77. Bjelica) - Klose, Djorkaeff Zuschauer: 63.000; Tore: 0:1 Lokvenc (5.), 1:1 Jancker (56.), 2:1 Zickler (90.)