Die guten Engel von Estland

Beim Grand Prix glaubte eine karibisch-baltische Boygroup an ihre Mission und bezwang diePop-Nationen Europas. Michelle sang sich auf den achten Platz, Favorit Britannien ging leer aus

aus Kopenhagen JAN FEDDERSEN

Man könnte die Geschichte etwa so erzählen: Es war einmal ein junger Mann namens Tanel Padar, der lebte irgendwo in einer verlassenen Ecke Europas, eingezwängt zwischen Russland und Finnland. Er wollte ein berühmter Popsänger werden, aber dafür war sein Land viel zu klein. Doch dann traf er einen Kollegen, der auf der karibischen Insel Aruba geboren wurde und ebenfalls nichts anderes im Sinn hatte, als Musik zu machen, die man gerne hört. Immerhin hatte es dieser Dave Bentoner zu Hilfsdiensten bei den Drifters, bei Tom Jones und den Platters gebracht. Doch auch er hatte schon alle Hoffnung fahren lassen, als er in Tallinn eine junge Frau traf, sich unsterblich verliebte, mit ihr ein Kind zeugte und sesshaft wurde. Allein: Sein Hunger nach Berühmtheit war nicht zu stillen. Doch dann traf er Tanel Padar in einer Tallinner Kneipe.

In Kopenhagen sangen die beiden dann ihre europäischen Rivalen in Grund und Boden. Sie gaben so etwas ab wie die „Weather Girls“ auf heterosexuell: zwei Männer mit tanzender Boygroup im Hintergrund. Anders als alle anderen schienen sie es zu genießen, endlich in den großen Städten außerhalb ihres Landes wahrgenommen zu werden. Sie lachten und groovten ihre kostbaren drei Minuten Auftritt vor 38.000 Zuschauern im Parkstadion, als sei in ihnen ein guter Engel. Sie glaubten einfach an ihre Mission.

Und so geschah es: Die beiden Esten gewannen mit dem Mitschunkel-Rap „Everbody“ den Grand Prix Eurovision mit 198 Punkten vor den Dänen von Rollo & King, die 177 Punkte einsammelten, den Griechen (147 Punkte – so gut waren die Hellenen nie bei der Eurovision) und Frankreichs Sängerin Natasha St. Pier, die zwar die erfolgreichste Ballade („Je n’ai que mon âme“ – „Ich habe nur meine Seele“) des Abends vortrug: am Ende aber doch nicht inbrünstig genug, als dass es hätte reichen können.

Favoriten wie Slowenien und Großbritannien stürzten dagegen in die Bedeutungslosigkeit, vielleicht weil für Discoqueens einfach zu wenig Zeit blieb, sich in die Herzen der gestern Abend europaweit rund 98 Millionen Zuhörer zu kreischen.

Und Michelle? Mit ihrem besten Auftritt, seit man an sie denken kann, reichte es zum achten Platz, 66 Punkte. Nur zwei Tage lang will sie jetzt noch Michelle sein – und geht dann für einige Zeit in Urlaub, als allein erziehende Mutter namens Tanja Hewer. Und noch dies gab sie zu Protokoll: „Ich finde es ganz toll, dass Estland gewonnen hat. Ein so kleines Land schlägt alle Großen – das ist ganz wunderbar.“

Auch die ARD war wieder einmal zufrieden – 8,16 Millionen Zuschauer laut Statistik sorgten für öffentlich-rechtliche Dominanz trotz Günter Jauchs RTL-Millionen. Nur der Grand-Prix-Abend 2000 mit Stefan Raab hatte die Nation noch deutlicher auf den Sender gebracht. Jürgen Meier-Beer, NDR-Verantwortlicher für diese mittlerweile publikumsträchtigste Popshow der Welt: „Das Geheimnis ,Grand Prix‘ hat mal wieder seine Macht gezeigt. Wer hätte schon mit Estland gerechnet.“ Auch Michelle, so die offizielle Lesart, kann glücklich sein, weil ihr der Auftritt – in den Augen der estnischen Sieger übrigens „sensationell harmonisch und weiblich“ – zumindest nicht geschadet habe.

Recht hat der Mann: Schließlich hat die halbe Reeperbahn bei der NDR-Party ihr zugejubelt, als sie zunächst ein wenig geknickt wirkte. Aber sie soll sich nicht beschweren. Die Sorte Musik, die sie singt, hat selbst in Deutschland nur noch einen Marktanteil von acht Prozent. Schlager, so das ästhetische Resümee, wird im Ausland offenbar als ranzig und gestrig empfunden.

Estland musste dafür gleich in der Nacht auf Sonntag mit ersten Rufschädigungen kämpfen: Können die das überhaupt nächstes Jahr in Tallinn? Gibt es genug Hotels? Kameras? Restaurants? Allesamt klangen so, als müsste die Toskanafraktion (Kopenhagen ist wunderschön, aber irre teuer) plötzlich in die tiefste Taiga umziehen. Für Holland, Island, Norwegen, Lettland, Irland, Israel, Polen und Portugal kein Problem – sie dürfen nächstes Jahr als Letztplazierte sowieso nicht mitsingen.

Doch keine Panik: Der estische Fernsehintendant bekam noch gestern Nacht einen Anruf von Staatspräsident Lennart Meri. Und der sagte: Geht alles klar, die neue Sporthalle wird schon im Herbst fertig. Und hapert es mit dem Geld (zwölf Millionen Mark kostet es mindestens, Gastgeber eines Grand Prix zu sein), dann wird einfach der Etat des Tourismusministers geplündert – schließlich bekäme man ohnehin nie wieder so gute Promotion wie durch diesen Pop-Event. Tanel Padar und Dave Bentoner sind gestern in Tallinn jedenfalls schon mal wie Heilsbringer empfangen worden.

Der unterlegenen deutschen Kandidatin wurde ganz zum Schluss noch ganz besonderer Trost zuteil: „Arme Michelle, gegen das Bumm-bumm-bumm der anderen hatte sie keine Chance“, analysierte nach geschlagener Schlacht Lys Assia für die taz das Geschehen. Die 89-Jährige weiß, wovon sie spricht: Sie gewann 1956 für die Schweiz.