Klassenkampf der Populisten

Anhänger des verhafteten Expräsidenten Estrada attackieren die neue Regierung von Gloria Macapagal Arroyo mit Klassenkampfparolen

aus Manila SVEN HANSEN

Nur mühsam können die Bodyguards dem Kandidaten einen Weg durch die tobende Menge bahnen. Auf den Rängen und dem Spielfeld der Basketballarena im Süden Manilas sind die 10.000 Anhänger der philippinischen Opposition aufgesprungen und winken mit Plakaten und Transparenten. Ihr Jubel und der Tusch einer Kapelle sind ohrenbetäubend. Als Panfilo „Ping“ Lacson die Bühne betritt, reckt er kämpferisch gleich beide Fäuste. „Ping Lacson, Ping Lacson!“ tönt es aus zehntausend Kehlen. Denn Lacson, ein Exgeneral und bis Januar der oberste Polizeichef, ist soeben aus dem Untergrund aufgetaucht.

Als Vertrauter des im Januar wegen Korruption gestürzten und Ende April verhafteten Präsidenten Joseph Estrada kandidiert Lacson für dessen Bündnis „Kraft der Massen“ für den Senat. Es ist Lacsons erster öffentlicher Auftritt seit den schweren Unruhen am 1. Mai. Zu Monatsbeginn hatten nach tagelangen Protesten 20.000 aufgeputschte Estrada-Anhänger aus den Slums versucht, den Präsidentenpalast zu stürmen. Vier Menschen starben dabei.

Gekaufte Demonstranten

Die Regierung von Präsidentin Gloria Macapagal Arroyo erklärte darauf einen „Zustand der Rebellion“ und warf Estrada-nahen Politikern vor, per „Rent-a-mob“-Taktik die Regierung stürzen zu wollen. Ein Oppositionssenator wurde verhaftet und erst gegen Kaution freigelassen, Lacson und ein anderer tauchten ab. Erst kurz vor den Wahlen sicherte die Regierung den Beschuldigten zu, frei von Verhaftungsdrohungen Wahlkampf machen zu können. Zur Abschlusskundgebung der Opposition am Freitagabend verließ Lacson sein Versteck.

„Das war keine Rebellion“, verteidigt der Expolizeichef den Aufruhr. „Die Demonstranten hatten nur Steine und keine Waffen.“ Klaffende Zahnlücken, Tätowierungen und Plastiklatschen zeichnen viele seiner Zuhörer als Bewohner der Slums der Zehn-Millionen-Stadt aus. Sie finden die Art und Weise, wie ihr Idol Estrada nach seiner Verhaftung vorgeführt wurde, entwürdigend. Lacson und andere Redner beschuldigen die Elite, am 1. Mai die Polizei arrogant gegen die Armen eingesetzt zu haben. Während seiner eigenen Amtszeit sei alles besser gewesen: „Wir haben unseren Job nur für euch gemacht“, erklärt Lacson den „Masa“ genannten Slumbewohnern. „Ich bin immer mit gutem Beispiel vorangegangen.“ Seine Anhänger nennen den Expolizeichef „Mission Possible“, Kritiker werfen dem Law-and-Order-Mann faschistische Tendenzen vor. Lacson selbst rühmt sich, Polizeioffizieren das Golfspiel während des Dienstes verboten zu haben. In einem Land, in dem sich laut Umfragen 56 Prozent der Bevölkerung selbst als arm einschätzen, fruchtet diese Rhetorik.

Die beiden „People Power“ genannten Massenproteste, die 1986 den Diktator Ferdinand Marcos und am 20. Januar dieses Jahres den korrupten Präsidenten Estrada stürzten, seien vor allem Bewegungen der Mittelschicht gewesen, sagt Randy David, Soziologieprofessor an der Universität der Philippinen und politischer Kommentator. „Es ging um politische und wirtschaftliche Modernisierung. Soziale Gerechtigkeit war kein großes Thema.“ Der durch seine Robin-Hood-Rollen bekannte Schauspieler Estrada habe dagegen die Ressentiments der Armen gegen die Elite für sich genutzt. Er verkaufte sich als Held der Armen, ohne deren Schicksal zu verbessern. „Den Armen wird eingeredet, Estrada wurde gestürzt, weil er deren Präsident gewesen sei“, sagt David.

Estradas Frau Luisa „Loi“ Ejercito, die jetzt für den Senat kandidiert und nach der Verhaftung ihres Mannes in Umfragen zulegen konnte, schlägt in diese Kerbe: „Immer, wenn wir die Massen treffen, geht es sehr herzlich zu“, sagt sie, um dann verlogen hinzuzufügen: „Doch wenn die jetzige Regierung sich unters Volk begibt, fliegen Tomaten.“ Dann verspricht die Ärztin, die bisher wegen der vielen außerehelichen Affären ihres Mannes bemitleidet wurde, unter „We love you!“-Rufen ihren Wählern den Zugang zu preiswerten Medikamenten. Wie sie das machen will und warum nicht schon während der Präsidentschaft ihres Mannes etwas geschah, sagt sie nicht. Stattdessen bringt sie eine Nachricht vom „Präsidenten“ mit.

Aus den Lautsprechern ertönt melancholisch Joseph „Erap“ Estradas Stimme. Ein Scheinwerfer schwenkt auf ein Plakat, dass Loi und Erap in glücklichen Tagen zeigt. Sie lehnt ihren Kopf an seine Brust, er lächelt gütig. „Die Reichen haben nie aufgehört, sich über die Armen in unserem Land lustig zu machen“, sagt der Expräsident, der selbst einer reichen Familie entstammt. „Lasst uns die wahre Kraft der Massen gegen ,People Power‘ der Reichen einsetzen.“ Er fordert seine Anhänger auf, auf der Hut zu sein vor dem Wahlbetrug der Regierung. Dann singt er sein Lieblingslied, seine Fans stimmen ein. Der melancholische Song „Den Schmerz tragen“ wirkt, als sei er genau für Estradas jetzige Situation geschrieben. Er ist auch gesundheitlich angeschlagen: Zur Zeit ist Estrada wegen Herzbeschwerden im Krankenhaus. Vom Tonband klingt seine Stimme herzerweichend. „Erap bleib!“, ruft die Menge, als das Lied endet.

„Estrada und seine Hintermänner haben etwas erreicht, was die Linke jahrzehntelang nicht geschafft hat: Die benachteiligten Klassen in einer machtvollen Massenbewegung zu organisieren“, sagt der Soziologe und Aktivist Walden Bello, der selbst Vorsitzender der Linkspartei Akbayan ist. „Wie der Peronismus in Argentinien die politische Landschaft unumkehrbar verändert hat, in dem er zur dominanten Form der Beteiligung der Unterschichten an der Politik wurde, so hat auch Estradas Populismus die philippinische Politik transformiert.“ Für die Armen zähle das Versprechen auf ein besseres Leben. Sie wollten von den Wohlhabenden respektiert werden und sich mit den Führern ihrers Landes identifizieren, so Bello.

Die Kommentatoren in Manila sind sich einig, dass die Ausschreitungen am 1. Mai ein Warnung an Präsidentin Arroyo sind, sich mehr um die Armen zu kümmern – auch wenn viele Demonstranten von Oppositionspolitikern bezahlt wurden oder unter Drogeneinfluss standen. „Man kann wirklich nicht behaupten, dass die Regierung eine Strategie zur Armutsbekämpfung hat“, sagt Bello. „Sie hat nur eine neoliberale Strategie, mit der sie das Wachstum fördern will, in dem ausländische Investoren angelockt werden sollen.“

Eine populistische Demokratie

Für den Politologen und Regierungsberater Alex Magno zeigt der Fall Estrada, dass sich durch Änderungen der politischen Ökonomie die Philippinen von einer Elitedemokratie in eine populistische Demokratie gewandelt haben. „Früher lieferten die Großgrundbesitzer ihren Kandidaten die Stimmen ihrer eigenen Pächter und Abhängigen. Das funkioniert heute nicht mehr. Die Unterschichten treffen jetzt ihre Entscheidungen unabhängiger von der Elite und wählen Schauspieler, Fernsehmoderatoren oder Basketballstars als ihre Repräsentanten“, so Magno.

Präsidentin Gloria Macapagal Arroyo steht jetzt nicht zur Wahl. Doch gilt der Urnengang als Referendum über die Akzeptanz ihrer jungen Herrschaft bei den Wählern. Auch muss ihr „People Power“-Wahlbündnis mindestens 8 der 13 zu besetzenden Senatorenposten erobern, um im 24-köpfigen Oberhaus die Mehrheit zu erhalten und um angestrebte Wirtschaftsreformen durchsetzen zu können. Arroyo, Tochter eines früheren Präsidenten und in behüteten Elitekreisen aufgewachsen, hat nach den Unruhen zum Monatsbeginn ihr Auftreten geändert. Sie spricht jetzt öfter die Nationalsprache Filipino statt Englisch, zieht mehr T-Shirts statt Kostüme an und lässt sich gern volkstümlich „Ate Glo“ – Schwester Gloria – nennen. Ihr Wahlziel von 13:0, also 13 Senatorenposten für die Regierung und keinen für die Opposition, dürfte sie laut Umfragen jedoch verfehlen. Die benötigten acht Senatorenposten könnte ihr Bündnis demnach aber schaffen.

Die mit Popstars gespickte und ganz in Gelb gehaltene Abschlusskundgebung von Arroyos „People Power“-Koalition ist am Sonnabend weniger dramatisch verlaufen als die der Opposition am Vortag. Auch die Regierungskandidaten verzichten bei ihrer Vorstellung auf die ohnehin kaum vorhandenen programmatischen Inhalte. Stattdessen sind Showeinlagen gefragt. Immer wieder werden Bilder vom Amtsenthebungsverfahren gegen Estrada eingeblendet. Das Publikum ist wohlhabender als bei der Opposition und verbringt viel Zeit damit, SMS-Nachrichten per Handy zu verschicken. Dann lässt Arroyo inmitten von „13:0“-Rufen das Publikum die Namen ihrer Kandidaten raten. Doch es fällt diesem sichtlich schwer, diese mit den von Arroyo vorgegebenen Inhalten zu identifizieren.

Zum Schluss stehen alle auf und singen mit Kerzen in der Hand die schnulzige „People Power“-Hymne „Ang Bayan Ko“ („Mein Land“). Derweil suchen die ersten Straßenkinder bereits zwischen den Sitzreihen nach Verwertbarem.