Bis dass der Kopf rollt

von RALPH BOLLMANN

Können Könige zurücktreten? Im Fall des Sachsenherrschers Kurt Biedenkopf ist das Unvorstellbare am Wochenende wieder ein Stückchen näher gerückt. Irgend jemand aus Biedenkopfs Umgebung hat ausgeplaudert, dass der Ministerpräsident im vorletzten Spätsommer auf der Luxusjacht eines bayerischen Bauunternehmers in Monte Carlo geweilt haben soll – eines Unternehmers, für dessen geschäftliche Interessen er sich eingesetzt habe.

Für Biedenkopfs Gegner ist der neue Fall viel besser als zuvor das wochenlange Hin und Her um Quadratmetermieten und Hauspersonal. Unter einer Amigo-Affäre kann sich jeder etwas vorstellen. Ließ sich nicht auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth von befreundeten Managern zu Urlaubsreisen einladen? War nicht auch der bayerische Amtskollege Max Streibl auf der brasilianischen Hazienda eines Firmenchefs zu Gast gewesen? Beide konnten strampeln, wie sie wollten – sie verlängerten nur das peinliche Gezerre. Am Ende blieb ihnen nichts als der Rücktritt.

Mit Späth und Streibl verbindet den Wahlsachsen Biedenkopf (71) mehr als nur die Vorliebe für teure Reisen auf fremde Kosten. Alle drei regierten in ihrem Land so unumschränkt und selbstherrlich, dass sie am Ende die Bodenhaftung verloren. Späth brauchte dafür nicht ganz 13 Jahre, Biedenkopf gut zehn Jahre, und Streibl schaffte es im CSU-Land Bayern sogar in nur fünf Jahren. Die Höhenflüge führten gleich auf zweierlei Weise zum Absturz. Zum einen merkten die Landesfürsten nicht, wie ihre Zeit ablief und der Rückhalt selbst in der eigenen Partei stetig dahinschwand – schließlich will die Generation der Kronprinzen auch einmal ans Ruder. Zum anderen boten die Landesfürsten mit ihrem barocken Verhältnis zur politischen Hygiene diesen Gegnern genügend Angriffspunkte.

Dass die Angriffe aus den eigenen Reihen kommen, liegt in den meisten Fällen auf der Hand. Das Material, das der Presse zugespielt wird, zeugt meist von erstaunlicher Detailkenntnis: Es kann nur aus der Umgebung des Regierungschefs selbst stammen. Dabei müssen es nicht unbedingt die verprellten Gegner oder die machtbewussten Nachfolgekandidaten sein, die brisante Informationen in Umlauf bringen. Das wäre für sie viel zu riskant. Es genügt, wenn an den neuralgischen Stellen im Apparat jemand sitzt, der lieber den jüngeren Edmund Stoiber als den hausbackenen Streibl in der Staatskanzlei sähe – oder der findet, der rechtzeitige Aufbau eines Biedenkopf-Nachfolgers könnte die Wahlchancen der sächsischen CDU im Jahr 2004 beträchtlich erhöhen.

Nur sehr wenige Landesfürsten dankten aus freien Stücken rechtzeitig ab – oder ließen sich von ihren Parteifreunden einigermaßen friedlich von diesem Schritt überzeugen. Viele von ihnen warten auf den vermeintlich richtigen Zeitpunkt, doch kein Datum ist ihnen perfekt genug. Nur aus freien Stücken wollen sie ihren Platz räumen. Aber je länger sie warten, desto unsouveräner wird ihre Entscheidung.

Das hat zuletzt der Berliner CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky vorgeführt: Jahrelang schwadronierte er vom fälligen Generationswechsel in der Berliner Union, den Termin jedoch schob er immer wieder hinaus. Am Ende wurde er selbst zum Anachronismus, und eine Spendenaffäre genügte, um dem Gang der Geschichte zum Durchbruch zu verhelfen.

Dabei mag es machtpolitisch durchaus sinnvoll sein, sich niemals auf ein Ende der eigenen Amtszeit festzulegen. Kündigt ein Politiker seinen Rücktritt lange vorher an, macht er sich selbst zur lahmen Ente; zeigt er sich zum Durchhalten entschlossen, lockt er seine Gegner aus der Reserve. Also äußert er sich so wolkig wie weiland Johannes Rau, der im Sommer 1996 über einen möglichen Rücktrittstermin orakelte: „Ich kenne den Zeitpunkt, meine Frau ahnt ihn.“

Danach dauerte es noch zwei Jahre, bis Rau dem Drängen seines Kronprinzen Wolfgang Clement nachgab und den Schreibtisch in der Düsseldorfer Staatskanzlei nach 20-jähriger Amtszeit räumte. Zuvor nahm er allerdings das Versprechen in Empfang, er werde im Falle eines SPD-Sieges bei der Bundestagswahl 1998 zum Bundespräsidenten gewählt – eine Methode, die leider nur einmal alle fünf Jahre anwendbar ist. Ohne den Stabwechsel wäre es für die Genossen bei der Landtagswahl im Frühjahr 2000 eng geworden. Der Rücktritt kam gerade noch zum richtigen Zeitpunkt, einer Schlammschlacht wie in Sachsen ist Rau nur knapp entgangen – und nur durch die harte Hand seines Parteifreundes Clement.

Sägen die Königsmörder dagegen am Thron des Regenten, wenn dessen Zeit noch gar nicht abgelaufen ist, dann kann es für sie selbst böse enden. Nicht wenige Beobachter brachten Lothar Späths „Traumschiff-Affäre“ mit seiner Beteiligung am gescheiterten Putschversuch gegen Helmut Kohl auf dem CDU-Parteitag 1989 in Verbindung – zumal die Mitverschwörerin Rita Süssmuth wenig später in den Strudel einer „Dienstwagen-Affäre“ geriet.

Manchmal sind es auch die Wähler, die einen voreiligen Putsch bestrafen. Ein rheinland-pfälzischer Umweltminister namens Hans-Otto Wilhelm hielt es 1988 für eine gute Idee, seinen Regierungschef Bernhard Vogel (CDU) aus dem Amt zu drängen – zu einem Zeitpunkt, zu dem sich Vogel trotz 12-jähriger Amtszeit noch immer großer Popularität erfreute. Die Quittung für die innerparteilichen Querelen ließ nicht lange auf sich warten: Bei der nächsten Landtagswahl fuhr ein gewisser Rudolf Scharping für die SPD den Sieg ein.

Wenig später setzte auch der vermeintliche Verlierer des christdemokratischen Machtkampfs zu einem Comeback an: Anfang 1992 wurde Vogel in Thüringen zum Ministerpräsidenten gewählt. Dort amtiert er mittlerweile schon neun Jahre – rechnet man die Mainzer Zeit hinzu, dann ist er seit 21 Jahren Landeschef.

Will Vogel (68) ein Desaster à la Biedenkopf vermeiden, dann bleibt ihm nicht viel Zeit für einen geordneten Rückzug. Das Problem scheint ihm bewusst zu sein: Immerhin hat er den CDU-Landesvorsitz schon im November an Fraktionschef Dieter Althaus abgegeben.

Landesfürst auf Lebenszeit: Das ist im Moment vor allem ein ostdeutsches Phänomen. Die Ministerpräsidenten, die nach der Wende angetreten waren, sind jetzt mehr als ein Jahrzehnt im Amt. Weil ostdeutsche Wähler mangels Parteibindung stärker auf Persönlichkeiten achten, ist ein Austausch des Führungspersonals in den neuen Ländern schwierig. Und weil die Personaldecke der Parteien dünner ist als im Westen, fühlen sich die Amtsinhaber erst recht unersetzbar.

Auch Manfred Stolpe (SPD), seit elf Jahren Regierungschef in Brandenburg, äußert noch keine Gedanken an den Ruhestand – obwohl er übermorgen seinen 65. Geburtstag feiert und seit der Oderflut immerhin über einen populären Nachfolger in Gestalt des Deichgrafen Matthias Platzeck verfügt.

Schwerer hat es schon der Berliner Amtskollege Eberhard Diepgen (CDU). Er ist seit 1984 mit kurzer Unterbrechung im Amt, nächstes Jahr wird er sogar die 16-jährige Regentschaft Helmut Kohls an Dauer überbieten. Trotzdem kann Diepgen nicht aufhören, selbst wenn er es wollte. Nach der Affäre seines Weggefährten Klaus Landowsky ist die hauptstädtische Union derart geschwächt, dass sie nicht auch noch den Bürgermeister auswechseln kann. Bei vorgezogenen Neuwahlen müsste Diepgen womöglich nochmals antreten – und seine politische Karriere, nicht anders als Kohl, mit einer schmählichen Niederlage beenden.

Zumindest am Ende ihrer Laufbahn haben es Deutschlands Landesfürsten heutzutage schwerer als ihre Ahnen in den glücklichen Zeiten der Kleinstaaterei. Wie praktisch: Das Prinzip der Monarchie auf Lebenszeit ersparte den Königen von Sachsen, Bayern oder Württemberg lästige Debatten über das Ende ihrer Amtszeit. In neuerer Zeit ist nur einem einzigen Landesfürsten gelungen, nicht nur fürstlich zu regieren, sondern auch wahrhaft fürstlich zu sterben. Franz Josef Strauß kam durch einen Jagdunfall ums Leben, als er noch in Amt und Würden war. Debatten über den Zeitpunkt seines Rücktritts blieben dem Monarchen auf Lebenszeit erspart.