„Zieh Leine, du Schlampe!“

Neue Trends an der Fernsehfront: Trenn-TV und andere schöne Programmformate

Millionen von Zuschauern wünschen sich endlich einmal wieder eine Sendung fürs Herz

Voyeurismus, Schadenfreude über das Unglück anderer und der unerschütterliche Glaube an die eigene Vollkommenheit gehören offenbar zur seelischen Grundausstattung des Menschen. Im Zeitalter der elektronischen Medien werden diese niederen Regungen ausgiebig bedient. Nichts ahnende Prominente werden mit versteckter Kamera der versammelten TV-Gemeinde wie Zirkustiere vorgeführt, menschliche Wracks lassen hinter Milchglasscheiben stimmverzerrte Geständnisse ab, und Perverse aller Länder versammeln sich zum Sturm auf die nachmittäglichen Talksendungen. Im ewigen Konkurrenzkampf des TV-Dschungels meinen die Fernsehhäuptlinge der Nation, den Unglücksvoyeurismus mit immer neuen Sendeformaten bedienen zu müssen. Ein Blick auf die Schreibtische der Programmplaner zeigt, was sich an der Fernsehfront Neues tut.

Kaum hatten sich mit Hilfe diverser Vermisstensendungen wie „Bitte melde dich“, „Spurlos“ und „Vermisst“ so ziemlich alle spurlos verschwundenen Menschen zurückgemeldet, ging das Gezeter in deutschen Wohnküchen schon wieder los. So mancher verwünschte seinen TV-Hilferuf und wollte den Heimgekehrten so schnell wie möglich wieder loswerden. Und wer soll dabei Hilfestellung geben? Selbstverständlich RTL! Der Kölner Powersender plant mit „Verschwinde!“ die Sendung für endgültig Zerstrittene, während Kuschelkanal Sat.1 mit dem Parallelformat „Bitte, schleich dich!“ ausnahmsweise beweist, dass es auch eine Spur höflicher geht.

Für den Sender Freies Berlin heißt das Zauberwort: Zielgruppenorientierung. Mit „Befrei mir!“, einer neuen, dialektgefärbten Rettungsshow, sollen Berliner in der Klemme präsentiert werden. Unverstellt und ungeschminkt werden Bewohner der Bundeshauptstadt gezeigt, die das Schicksal auf dem falschen Fuß erwischt hat: die ehemalige Stasi-Sachbearbeiterin im stecken gebliebenen Paternoster des Arbeitsamtes, der Bankangestellte, hinter dem die Tresortür ins Schloss gefallen ist, der Arbeiter im Schlachthof, der von seinem Kollegen über Nacht versehentlich im Kühlraum eingesperrt wurde. Moderator Joachim Wehrnke begleitet die Gaffersendung mit seiner Alt-Berliner Schnodderschnauze. Nach „Verzeih mir!“ ist „Befrei mir!“ ein sympathisches Stück Erlebnis-Fernsehen aus Spree-Athen.

Benimm ist in! Angewidert von den sensationslüsternen Seelenentblößungen so genannter Realityshows fordern immer mehr Zuschauer einen neuen Benimmkodex für Fernsehsendungen. Den Anfang will der Mitteldeutsche Rundfunk mit einer neuen Beziehungskistenshow machen: „Verweile doch!“ soll sich von Prollsendungen der Privaten wie „Hau ab!“ oder „Zieh Leine, du Schlampe!“ absetzen. Verständlich, dass sich nach derartig erschütterndem RTL 2-Müll Millionen von Zuschauern endlich einmal wieder eine Sendung fürs Herz wünschen. Das ZDF zieht ab 2002 mit „Bleib bei mir!“ nach. In der Tränen- und Rührsendung sollen sich kurz vor der Trennung stehende Paare im letzten Moment wieder „zusammenraufen“. Wer sich vor laufender Kamera nicht zu diesem Schritt entschließen mag, kann sich bei der Wiedervereinigung auch hinter einer Milchglasscheibe filmen lassen.

Wenn es tatsächlich gelingen sollte, via Bildschirm eine kultiviertere Form des Beziehungskriegs einzuüben, will Arte mit einer eigenen Edelshow unter dem etwas sperrigen Titel „Würdest du bitte so freundlich sein, deine Koffer zu packen?“ nachziehen. Scheidungswillige Vollakademiker sollten in Erwägung ziehen, die nützlichen Ratschläge dieser elektronischen Trennhilfe umgehend zu befolgen ...

RÜDIGER KIND