Anklage an die Kriegsgeneration

Seit zwanzig Jahren kämpfte der Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann um eine Rehabilitation der vergessenen Opfer der NS-Militärjustiz. Heute wird im ehemaligen KZ Buchenwald ein Gedenkstein für die Deserteure eingeweiht

Für Ludwig Baumann ist es so etwas wie ein kleiner Sieg. Seit zwanzig Jahren kämpft der Bremer für eine Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure. Heute wird im früheren KZ Buchenwald der erste Gedenkstein für die Opfer der NS-Militärjustiz eingeweiht. Auch wenn es nicht die erhoffte pauschale Rücknahme der Unrechtsurteile ist – eine „späte Würdigung“, so Baumann, ist es doch.

Seine Geschichte beginnt im Frühjahr 1942. Mit einem Kameraden setzte sich der Matrosengefreite von der Hafenkompanie in Bordeaux ab. Ihr Ziel: Amerika. Doch die Flucht endet bereits kurze Zeit später, eine deutsche Zollstreife fasst sie. Die Wochenschaubilder vom Winterkrieg in der Sowjetunion, sagt Baumann, hätten ihn aufgerüttelt. Dabei sei er „unpolitisch“ gewesen.

Auf Fahnenflucht steht die Todesstrafe. Monatelang wird Baumann in Einzelhaft gehalten und nur auf Intervention eines Geschäftsfreundes des Vaters begnadigt. Es folgen das Wehrmachtsgefängnis Torgau und das Strafbataillon 500. Das Kriegsende erlebt Baumann verwundet in einem Lazarett.

100.000 Zuchthausstrafen und 30.000 Todesurteile verhängten die NS-Richter gegen Kriegsdienstverweigerer, Fahnenflüchtige und so genannte „Wehrkraftzersetzer“. Über 20.000 Todesstrafen wurden vollstreckt. Diejenigen, die überlebten, wurden nach dem Krieg als Verräter beschimpft. Keiner von ihnen habe Anschluss an die Gesellschaft gefunden, sagt Baumann. „Wir waren immer allein.“

Mit der Demütigung kam Baumann nicht zurecht. Den Alkohol als ständigen Begleiter, schlägt sich der gelernte Maurer mehr schlecht als recht als Handelsvertreter durch. Erst der Tod seiner Frau reißt ihn aus der Apathie. Fortan engagiert sich Baumann in der Friedensbewegung. Als 1986 in Bremen das erste Denkmal für Deserteure aufgestellt wird, hat er seine Lebensaufgabe gefunden. Gemeinsam mit 36 anderen gründet er vier Jahre später die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“.

Nur 200 der einstigen Deserteure leben heute noch. Noch immer hängt ihnen ein Strafmakel an, auf eine Rente hofften sie vergeblich. Das 1998 von der Kohl-Regierung verabschiedete Gesetz hob die NS-Urteile nicht pauschal auf, die Deserteure müssen bei der Staatsanwaltschaft einen Antrag stellen.

Die Zeit des einsamen Kampfes scheint vorüber. Mit Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin steht Baumann in Briefkontakt, hat sie bereits mehrfach getroffen. Doch auch wenn die rot-grüne Bundesregierung in der Koalitionsvereinbarung ein Gesetz ankündigte – auf eine pauschale Aufhebung der NS-Urteile warten die Betroffenen weiter. Baumann glaubt den Grund zu kennen: „Wir sind ein Politikum. Wenn wir entschädigt werden, sind wir eine Anklage an die gesamte männliche Kriegsgeneration.“

Der Rentner selbst ist inzwischen fast so etwas wie ein Medienstar, selbst die BBC drehte einen Film. 1996 schlug eine Potsdamer Initiative ihn gar für den Friedensnobelpreis vor. Den bekam er zwar nicht, dafür aber den Aachener und den Sievershäuser Friedenspreis. Doch mit dem Begriff „Ehre“ kann Baumann wenig anfangen. „Die Helden waren oft jene, die am meisten gemordet haben.“

NICOLE MASCHLER