Mama Berlin, Backstein und Benzin

Jetzt muss nur der Sommer halten, was „Dickes B“ verspricht: Die elfköpfige Berliner Offbeat-Eingreiftruppe Seeed bedient sich auf ihrem Debütalbum „New Dubby Conquerors“ bei allen verfügbaren jamaikanischen Stilen von Dancehall bis Rocksteady

von THOMAS WINKLER

Es ist dieser Tage nicht ganz einfach, Seeed zu entgehen. Ob im Jahn-Stadion beim American Football, auf der kommenden zweiten „Berlin macht Schule“-Compilation oder in den Radio-Sendern der Hauptstadt: Überall dröhnt „Dickes B“, das Loblied auf Berliner Duft und Fetenkultur im Dancehall-Rhythmus. So hat die Stadt pünktlich zu den ersten warmen Tagen des Jahres ihre Sommer-Hymne und Pierre Baigorry plötzlich viele Fragen zu beantworten.

Eine dieser Fragen, eine der beliebtesten, ist die, „wie wir in Berlin dazu kommen können, ausgerechnet Reggae zu machen“. Baigorry, der Mastermind der elfköpfigen Offbeat-Eingreiftruppe, ist von dieser Frage bereits so angenervt, dass er sie lieber gleich stellt und beantwortet: „Ich empfinde die Musik Reggae sehr tief, ohne dabei an Jamaika zu denken. Wenn wir diese Musik spielen, dann ist das im Hier und Jetzt.“

Aber es ist das Zerrbild vom Sunshine-Reggae aus der Baccardi-Werbung, das immer noch die Köpfe hierzulande beherrscht. Dabei, so Baigorry, der bislang erst ein einziges Mal auf Jamaika Urlaub machte, „ist es auch in Kingston dreckig und großstadtmäßig“. Wie in Berlin: „Mama Berlin / Backstein und Benzin“, heißt es im Refrain von „Dickes B“, und später: „Woanders gibt es eine Sperrstunde / Bei uns die Müllabfuhr“.

Solche Zeilen erzählen von einem urbanen Lebensgefühl, das im Reggae-Klischee aus Sonne, Sand und Palmen nicht vorkommt. Selbstverständlich bedienen Seeed auch klassische Erwartungen, selbst wenn keiner der elf ein gläubiger Rasta ist. Auf Jamaika mögen im Offbeat auch Themen von sozialer oder politischer Relevanz verhandelt werden, bei Seeed steht vor allem der Party-Aspekt im Vordergrund. Bei ihnen dominieren Textzeilen wie „Steh da nicht so bieder, komm, beweg dich mal wieder/ Zieh den Stock aus dem Arsch und dann ergib dich dem Fieber“. Und damit angemessen stilvoll gefeiert werden kann, müssen die Original-Anzüge aus den 30er- und 40er-Jahren, mit denen sie sich im Video zu „Dickes B“ präsentieren, jedes Mal für 2.000 Mark aus dem Film-Fundus ausgeliehen werden.

Baigorry gibt zu, dass ihr wichtigster Anspruch sei, die Leute zum Tanzen zu bringen: „Bevor wir irgendwelche politischen Ziele verfolgen, wollen wir gutes Entertainment liefern.“ Auf ihrem am Montag erscheinenden Debütalbum „New Dubby Conquerors“ versucht man sich erfolgreich an nahezu allen verfügbaren jamaikanischen Stilen. Zwischen den unverzichtbaren fetten Bässen setzt vor allem die Bläsersektion Highlights. Aber: Ist es nun Dancehall? Ist es Rocksteady? Oder einfach Reggae? Dub ist es wohl eher seltener. „Nenn es so oder so / Es bleibt dieselbe Musik“, heißt es im einleitenden, programmatischen Song „Dancehall Caballeros“. Ebenso problemlos mischen die drei Vokalartisten, neben Baigorry noch Frank Dellé und Demba Nabé, die Sprachen: Gleichberechtigt stehen Deutsch und Englisch nebeneinander. Nur den jamaikanischen Dialekt Patois sucht man vergeblich, dafür benutzt Dellé eine Art Pidgin-Englisch, das er in Ghana gelernt hat, wo er zur Schule ging. Wie Seeed sowieso den Traum eines Integrationsbeauftragten abgeben: Außer einem Jamaikaner und einem Französisch-Schweizer sind alle in Berlin geboren, bilden aber eine fotogene multikulturelle Melange.

Deutsch singt und rappt vor allem Baigorry, aber auch er mixt trotz einer französischen Mutter beständig englische Ausdrücke und Redewendungen in seinen Flow, der gar nicht mehr darüber nachzudenken scheint, ob sich denn teutonische Sperrigkeit mit den elegant verzögerten Riddims verträgt.

Während aber der Großteil seiner Kollegen wie D-Flame aus Frankfurt und Benji aus Hannover die Themen aus Jamaika eins zu eins übersetzt und damit mitunter unfreiwillig komisch wird, textet Baigorry allein aus seinem eigenen Erfahrungsschatz: „Reggae war nie politically correct, auch bei Peter Tosh oder Bob Marley nicht. In dieser Kultur ticken die Uhren halt anders als in Mitteleuropa. Hey geile Braut mit deinem geilen Arsch, steig in meinen geilen Wagen, wir machen eine geile Spritztour. So was singen wir nicht, weil wir anders aufgewachsen sind.“

Die entscheidende Kategorie bleibt Authentizität, in anderen Genres längst abgeschafft, im Dancehall weiter nicht zu unterschätzen. Aber während sich die Texte manches Möchtegern-Rudeboys in der Übernahme von Klischees erschöpfen, singt Baigorry „über das, was mich beschäftigt. Für mich ist nicht wichtig, ob es politisch korrekt ist, sondern ob es glaubwürdig ist.“

Seeed bemühen sich erst einmal, aus diesem Berliner Sommer einen im Offbeat zu machen. Momentan geht es ihnen darum, Reggae zu machen, weil das, so Pierre Baigorry, „eben geile Musik“ ist. Fällt dabei noch eine kleine, flockige Hymne für die Hauptstadt ab, das „Home an der Spree“, dürfte sich niemand beschweren. Jetzt muss nur der Sommer halten, was „Dickes B“ verspricht.

Seeed: „New Dubby Conquerors“ (Downbeat/WEA), erscheint Montag; heute Record Release Party ab 21 Uhr im Pfefferberg, Schönhauser Allee 176