Polens Ex-Staatschef vor Gericht

General Wojciech Jaruzelski muss sich wegen der blutigen Unruhen an der Ostseeküste im Jahre 1970 verantworten

WARSCHAU taz ■ Im Dezember 1970 ließ die polnische Regierung Panzer in Danzig, Stettin und Gdingen auffahren. Als die streikenden Arbeiter die Werften verließen, erschossen Milizionäre und Soldaten 44 Menschen und verletzten über 1.000 Arbeiter schwer. Mit dieser „Niederschlagung des Aufstandes“ wollte die Regierung die Preiserhöhung für Fleisch durchsetzen.

Seit gestern muss sich General Wojciech Jaruzelski, früherer Staats- und Parteichef im kommunistischen Polen, für das Massaker an der Ostseeküste verantworten. Er war 1970 Verteidigungsminister und soll in dieser Funktion den Schießbefehl gegeben haben. Mit auf der Anklagebank sitzen neun ehemalige kommunistische Funktionäre, darunter der frühere Vizeministerpräsident, Stanislaw Kociolek. Polen hat seit der Wende 1989 keinen hochrangigen Funktionär aus der kommunistischen Zeit verurteilt. Der Versuch, Jaruzelski vor Gericht zu stellen, war zunächst daran gescheitert, dass es der General gewesen war, der 1989 den Weg frei gemacht hatte zu einem „friedlichen Umsturz“ und halbdemokratischen Wahlen. Jaruzelski wurde auch zugute gehalten, dass er 1981 das Kriegsrecht habe verhängen müssen, da sonst vielleicht die Sowjets einmarschiert wären.

Dennoch wäre es 1995 fast zu einem Prozess gegen ihn und elf ehemalige kommunistische Funktionäre gekommen, doch fünf der Angeklagten – darunter Jaruzelski – waren an den angesetzten Prozesstagen immer zu krank, um nach Danzig zu reisen. Schließlich wurden sie vom Prozess ausgeschlossen. Das Verfahren gegen die „Warschauer“ sollte in der Hauptstadt stattfinden. 1999 verlangten aber die Verteidiger Jaruzelskis, dass ein Prozess gegen ehemalige Regierungsangehörige nur vor dem Staatsgerichtshof geführt werden dürfe. Dies verzögerte die Aufnahme des Prozesses um ein weiteres Jahr. Als dies geklärt war, meinten die Anwälte, Jaruzelski sei wieder zu krank, um an einem Totschlagsprozess teilzunehmen. Da er sich häufig in Talkshows zeigte, räumte ein anderer Gutachter Zweifel am Gesundheitszustand des 77-Jährigen wieder aus. Allerdings haben nun die Anwälte beantragt, den Prozess zurück nach Danzig zu verlegen. GABRIELE LESSER